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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
poetischen Triebes, an der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts, in
allen germanischen Ländern, vor allem aber in Franken ins Leben
traten, wenn wir auf der einen Seite die Geste de Charlemagne, das
Rolandslied, die Berte aus gratis pies, Ogier le Danois etc. betrachten,
alles selbständige Versuche fränkischer Schaffenskraft, und auf der
anderen Seite keltische Poesie wiederaufleben sehen in den Sagen
von der Queste du Graal, von Artus' Tafelrunde, von Tristan und
Isolde,
von Parsifal u. s. w., so können wir keinen Augenblick in
Zweifel sein, wo die tiefere, reichere, echtere, poetisch unerschöpfliche
Gestaltungs- und Bedeutungsfülle zu finden ist. Und dabei war diese
keltische Poesie des 13. Jahrhunderts im Nachteil, da sie nicht in
ihrer eigenen Gestalt auftrat, sondern der Flügel des Gesanges beraubt,
zum Roman breitgetreten, mit ritterlichen, römischen und christlichen
Anschauungen verquickt, ihr echter dichterischer Kern fast ebenso durch
fremdes Beiwerk zugeschüttet wie die nordischen Mythen im deutschen
Nibelungenliede. Je weiter wir zurückgreifen können, um so deut-
licher erkennen wir -- bei allem individuell Trennenden -- die innige
Verwandtschaft zwischen urkeltischer und urgermanischer dichterischer
Anlage; von Stufe zu Stufe geht nach abwärts zu etwas verloren,
so dass z. B., trotzdem Gottfried von Strassburg's Tristan als voll-
endetes Dichterwerk die französischen Bearbeitungen desselben Stoffes
unfraglich übertrifft, doch mehrere der tiefsten und feinsten Züge,
welche dieser unvergleichlichen, poetisch-mythisch-symbolischen Sage
zu Grunde liegen bei ihm fehlen, während der altfranzösische Roman
sie besitzt und Chrestien de Troyes sie mindestens noch angedeutet
hatte; das Gleiche gilt für Wolfram's Parzival.1) Am überzeugendsten
und ergreifendsten offenbart sich uns jedoch diese Verwandtschaft,
wenn wir gewahr werden, dass in Wahrheit einzig deutsche Musik
im Stande war, sowohl die urkeltische wie die urgermanische Poesie
in ihrer ursprünglichen Absicht und Bedeutung zu neuem Leben zu
erwecken; das lehrten uns die künstlerischen Grossthaten unseres Jahr-
hunderts und deckten damit zugleich die innige Zusammengehörigkeit
jener beiden Bronnen auf.

Über den echten Slaven lässt sich weniger berichten, da wir ver-Der
Slavogermane.

legen sind, wo wir ihn suchen sollen, und zunächst nur das Eine sicher

1) An diesem Orte habe ich mir gestattet, das Ergebnis eigener Studien zu
verwerten (vergl. Notes sur Parsifal und Notes sur Tristan in der Revue Wagnerienne,
Jahrgang 1886 und 1887).

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
poetischen Triebes, an der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts, in
allen germanischen Ländern, vor allem aber in Franken ins Leben
traten, wenn wir auf der einen Seite die Geste de Charlemagne, das
Rolandslied, die Berte aus gratis piés, Ogier le Danois etc. betrachten,
alles selbständige Versuche fränkischer Schaffenskraft, und auf der
anderen Seite keltische Poesie wiederaufleben sehen in den Sagen
von der Queste du Graal, von Artus’ Tafelrunde, von Tristan und
Isolde,
von Parsifal u. s. w., so können wir keinen Augenblick in
Zweifel sein, wo die tiefere, reichere, echtere, poetisch unerschöpfliche
Gestaltungs- und Bedeutungsfülle zu finden ist. Und dabei war diese
keltische Poesie des 13. Jahrhunderts im Nachteil, da sie nicht in
ihrer eigenen Gestalt auftrat, sondern der Flügel des Gesanges beraubt,
zum Roman breitgetreten, mit ritterlichen, römischen und christlichen
Anschauungen verquickt, ihr echter dichterischer Kern fast ebenso durch
fremdes Beiwerk zugeschüttet wie die nordischen Mythen im deutschen
Nibelungenliede. Je weiter wir zurückgreifen können, um so deut-
licher erkennen wir — bei allem individuell Trennenden — die innige
Verwandtschaft zwischen urkeltischer und urgermanischer dichterischer
Anlage; von Stufe zu Stufe geht nach abwärts zu etwas verloren,
so dass z. B., trotzdem Gottfried von Strassburg’s Tristan als voll-
endetes Dichterwerk die französischen Bearbeitungen desselben Stoffes
unfraglich übertrifft, doch mehrere der tiefsten und feinsten Züge,
welche dieser unvergleichlichen, poetisch-mythisch-symbolischen Sage
zu Grunde liegen bei ihm fehlen, während der altfranzösische Roman
sie besitzt und Chrestien de Troyes sie mindestens noch angedeutet
hatte; das Gleiche gilt für Wolfram’s Parzival.1) Am überzeugendsten
und ergreifendsten offenbart sich uns jedoch diese Verwandtschaft,
wenn wir gewahr werden, dass in Wahrheit einzig deutsche Musik
im Stande war, sowohl die urkeltische wie die urgermanische Poesie
in ihrer ursprünglichen Absicht und Bedeutung zu neuem Leben zu
erwecken; das lehrten uns die künstlerischen Grossthaten unseres Jahr-
hunderts und deckten damit zugleich die innige Zusammengehörigkeit
jener beiden Bronnen auf.

Über den echten Slaven lässt sich weniger berichten, da wir ver-Der
Slavogermane.

legen sind, wo wir ihn suchen sollen, und zunächst nur das Eine sicher

1) An diesem Orte habe ich mir gestattet, das Ergebnis eigener Studien zu
verwerten (vergl. Notes sur Parsifal und Notes sur Tristan in der Revue Wagnérienne,
Jahrgang 1886 und 1887).
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[471/0494] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. poetischen Triebes, an der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts, in allen germanischen Ländern, vor allem aber in Franken ins Leben traten, wenn wir auf der einen Seite die Geste de Charlemagne, das Rolandslied, die Berte aus gratis piés, Ogier le Danois etc. betrachten, alles selbständige Versuche fränkischer Schaffenskraft, und auf der anderen Seite keltische Poesie wiederaufleben sehen in den Sagen von der Queste du Graal, von Artus’ Tafelrunde, von Tristan und Isolde, von Parsifal u. s. w., so können wir keinen Augenblick in Zweifel sein, wo die tiefere, reichere, echtere, poetisch unerschöpfliche Gestaltungs- und Bedeutungsfülle zu finden ist. Und dabei war diese keltische Poesie des 13. Jahrhunderts im Nachteil, da sie nicht in ihrer eigenen Gestalt auftrat, sondern der Flügel des Gesanges beraubt, zum Roman breitgetreten, mit ritterlichen, römischen und christlichen Anschauungen verquickt, ihr echter dichterischer Kern fast ebenso durch fremdes Beiwerk zugeschüttet wie die nordischen Mythen im deutschen Nibelungenliede. Je weiter wir zurückgreifen können, um so deut- licher erkennen wir — bei allem individuell Trennenden — die innige Verwandtschaft zwischen urkeltischer und urgermanischer dichterischer Anlage; von Stufe zu Stufe geht nach abwärts zu etwas verloren, so dass z. B., trotzdem Gottfried von Strassburg’s Tristan als voll- endetes Dichterwerk die französischen Bearbeitungen desselben Stoffes unfraglich übertrifft, doch mehrere der tiefsten und feinsten Züge, welche dieser unvergleichlichen, poetisch-mythisch-symbolischen Sage zu Grunde liegen bei ihm fehlen, während der altfranzösische Roman sie besitzt und Chrestien de Troyes sie mindestens noch angedeutet hatte; das Gleiche gilt für Wolfram’s Parzival. 1) Am überzeugendsten und ergreifendsten offenbart sich uns jedoch diese Verwandtschaft, wenn wir gewahr werden, dass in Wahrheit einzig deutsche Musik im Stande war, sowohl die urkeltische wie die urgermanische Poesie in ihrer ursprünglichen Absicht und Bedeutung zu neuem Leben zu erwecken; das lehrten uns die künstlerischen Grossthaten unseres Jahr- hunderts und deckten damit zugleich die innige Zusammengehörigkeit jener beiden Bronnen auf. Über den echten Slaven lässt sich weniger berichten, da wir ver- legen sind, wo wir ihn suchen sollen, und zunächst nur das Eine sicher Der Slavogermane. 1) An diesem Orte habe ich mir gestattet, das Ergebnis eigener Studien zu verwerten (vergl. Notes sur Parsifal und Notes sur Tristan in der Revue Wagnérienne, Jahrgang 1886 und 1887).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/494>, abgerufen am 22.11.2024.