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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
grosse Schlacht auf dem Kossovopolje (1383) anschliesst, doch zweifels-
ohne in seinen poetischen Motiven viel weiter zurückreicht, erinnert
durch die bekundete Gesinnung -- die Treue bis in den Tod, den
Heldenmut, die Heldenweiber, sowie die hohe Achtung, welche diese
geniessen, die Geringschätzung aller Güter im Vergleich zur persön-
lichen Ehre -- an keltische und an germanische lyrische und epische
Poesie. Ich lese in Litteraturgeschichten, derlei Poesien und solche
Heldengestalten wie Marco Kraljevich seien aller Volksdichtung ge-
meinsam: das ist aber nicht wahr, und kann nur einem durch Über-
fülle der Gelehrsamkeit für die Feinheiten der Individualität Blind-
gewordenen so erscheinen. Rama ist ein wesentlich anders gearteter
Held als Achilles und dieser wiederum anders als Siegfried, während da-
gegen der keltische Tristan in vielen Zügen die unmittelbare Verwandt-
schaft mit dem deutschen Siegfried verrät, und zwar nicht allein in
jenen Äusserlichkeiten des Ritterromanes (Drachenkampf u. s. w.), die
teilweise spätere Zuthat sein mögen, sondern vielmehr in jenen ältesten
volkstümlichsten Gestaltungen, wo Tristan noch ein Hirt ist und
Siegfried noch nicht ein Held am burgundischen Hofe: hier gerade
sehen wir klar, dass ausser der ungeheueren Kraft, ausser dem Zauber
der Unüberwindlichkeit und mehr dergleichen allgemeinsamen Helden-
attributen, bestimmte Ideale der Dichtung zu Grunde liegen; und
in diesen, nicht in jenen, spiegelt sich die Eigenart einer Volksseele
ab. So hier z. B. bei Tristan und bei Siegfried: die Treue als
Grundlage des Ehrbegriffes, die Bedeutung der Jungfräulichkeit, der
Sieg im Untergang (mit anderen Worten, die Verlegung des eigent-
lichen Heldentums in den inneren Vorgang, nicht in den äusseren
Erfolg). Derlei Züge unterscheiden einen Siegfried, einen Tristan,
einen Parsifal nicht allein von einem semitischen Simson, dessen Helden-
kraft in den Haaren liegt, sondern ebenfalls von dem stammverwandten
Achilles: den Griechen ist die Reinheit fremd, die Treue kein Prinzip
der Ehre, sondern nur der Liebe (Patroklos), der Held trotzt dem
Tode, er überwindet ihn nicht, wie wir das von jenen sagen können.
Gerade solche Züge echter Verwandtschaft finde ich in der serbischen
Poesie, trotz aller Abweichungen der Form. Schon dass ihr Heldencyklus
sich um eine grosse Niederlage, nämlich um die für sie vernichtende
Schlacht bei Kossovo, nicht um einen Sieg bildet, ist von grosser Be-
deutung; denn die Serben haben Siege genug errungen und waren
unter Stephan Duschan ein mächtiger Staat gewesen; hier liegt also
ohne Frage eine besondere Anlage vor und wir dürfen mit Sicherheit

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
grosse Schlacht auf dem Kossovopolje (1383) anschliesst, doch zweifels-
ohne in seinen poetischen Motiven viel weiter zurückreicht, erinnert
durch die bekundete Gesinnung — die Treue bis in den Tod, den
Heldenmut, die Heldenweiber, sowie die hohe Achtung, welche diese
geniessen, die Geringschätzung aller Güter im Vergleich zur persön-
lichen Ehre — an keltische und an germanische lyrische und epische
Poesie. Ich lese in Litteraturgeschichten, derlei Poesien und solche
Heldengestalten wie Marco Kraljevich seien aller Volksdichtung ge-
meinsam: das ist aber nicht wahr, und kann nur einem durch Über-
fülle der Gelehrsamkeit für die Feinheiten der Individualität Blind-
gewordenen so erscheinen. Rama ist ein wesentlich anders gearteter
Held als Achilles und dieser wiederum anders als Siegfried, während da-
gegen der keltische Tristan in vielen Zügen die unmittelbare Verwandt-
schaft mit dem deutschen Siegfried verrät, und zwar nicht allein in
jenen Äusserlichkeiten des Ritterromanes (Drachenkampf u. s. w.), die
teilweise spätere Zuthat sein mögen, sondern vielmehr in jenen ältesten
volkstümlichsten Gestaltungen, wo Tristan noch ein Hirt ist und
Siegfried noch nicht ein Held am burgundischen Hofe: hier gerade
sehen wir klar, dass ausser der ungeheueren Kraft, ausser dem Zauber
der Unüberwindlichkeit und mehr dergleichen allgemeinsamen Helden-
attributen, bestimmte Ideale der Dichtung zu Grunde liegen; und
in diesen, nicht in jenen, spiegelt sich die Eigenart einer Volksseele
ab. So hier z. B. bei Tristan und bei Siegfried: die Treue als
Grundlage des Ehrbegriffes, die Bedeutung der Jungfräulichkeit, der
Sieg im Untergang (mit anderen Worten, die Verlegung des eigent-
lichen Heldentums in den inneren Vorgang, nicht in den äusseren
Erfolg). Derlei Züge unterscheiden einen Siegfried, einen Tristan,
einen Parsifal nicht allein von einem semitischen Simson, dessen Helden-
kraft in den Haaren liegt, sondern ebenfalls von dem stammverwandten
Achilles: den Griechen ist die Reinheit fremd, die Treue kein Prinzip
der Ehre, sondern nur der Liebe (Patroklos), der Held trotzt dem
Tode, er überwindet ihn nicht, wie wir das von jenen sagen können.
Gerade solche Züge echter Verwandtschaft finde ich in der serbischen
Poesie, trotz aller Abweichungen der Form. Schon dass ihr Heldencyklus
sich um eine grosse Niederlage, nämlich um die für sie vernichtende
Schlacht bei Kossovo, nicht um einen Sieg bildet, ist von grosser Be-
deutung; denn die Serben haben Siege genug errungen und waren
unter Stephan Duschan ein mächtiger Staat gewesen; hier liegt also
ohne Frage eine besondere Anlage vor und wir dürfen mit Sicherheit

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[473/0496] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. grosse Schlacht auf dem Kossovopolje (1383) anschliesst, doch zweifels- ohne in seinen poetischen Motiven viel weiter zurückreicht, erinnert durch die bekundete Gesinnung — die Treue bis in den Tod, den Heldenmut, die Heldenweiber, sowie die hohe Achtung, welche diese geniessen, die Geringschätzung aller Güter im Vergleich zur persön- lichen Ehre — an keltische und an germanische lyrische und epische Poesie. Ich lese in Litteraturgeschichten, derlei Poesien und solche Heldengestalten wie Marco Kraljevich seien aller Volksdichtung ge- meinsam: das ist aber nicht wahr, und kann nur einem durch Über- fülle der Gelehrsamkeit für die Feinheiten der Individualität Blind- gewordenen so erscheinen. Rama ist ein wesentlich anders gearteter Held als Achilles und dieser wiederum anders als Siegfried, während da- gegen der keltische Tristan in vielen Zügen die unmittelbare Verwandt- schaft mit dem deutschen Siegfried verrät, und zwar nicht allein in jenen Äusserlichkeiten des Ritterromanes (Drachenkampf u. s. w.), die teilweise spätere Zuthat sein mögen, sondern vielmehr in jenen ältesten volkstümlichsten Gestaltungen, wo Tristan noch ein Hirt ist und Siegfried noch nicht ein Held am burgundischen Hofe: hier gerade sehen wir klar, dass ausser der ungeheueren Kraft, ausser dem Zauber der Unüberwindlichkeit und mehr dergleichen allgemeinsamen Helden- attributen, bestimmte Ideale der Dichtung zu Grunde liegen; und in diesen, nicht in jenen, spiegelt sich die Eigenart einer Volksseele ab. So hier z. B. bei Tristan und bei Siegfried: die Treue als Grundlage des Ehrbegriffes, die Bedeutung der Jungfräulichkeit, der Sieg im Untergang (mit anderen Worten, die Verlegung des eigent- lichen Heldentums in den inneren Vorgang, nicht in den äusseren Erfolg). Derlei Züge unterscheiden einen Siegfried, einen Tristan, einen Parsifal nicht allein von einem semitischen Simson, dessen Helden- kraft in den Haaren liegt, sondern ebenfalls von dem stammverwandten Achilles: den Griechen ist die Reinheit fremd, die Treue kein Prinzip der Ehre, sondern nur der Liebe (Patroklos), der Held trotzt dem Tode, er überwindet ihn nicht, wie wir das von jenen sagen können. Gerade solche Züge echter Verwandtschaft finde ich in der serbischen Poesie, trotz aller Abweichungen der Form. Schon dass ihr Heldencyklus sich um eine grosse Niederlage, nämlich um die für sie vernichtende Schlacht bei Kossovo, nicht um einen Sieg bildet, ist von grosser Be- deutung; denn die Serben haben Siege genug errungen und waren unter Stephan Duschan ein mächtiger Staat gewesen; hier liegt also ohne Frage eine besondere Anlage vor und wir dürfen mit Sicherheit

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/496>, abgerufen am 14.09.2024.