Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erben.
lebte; und ich behaupte, dieser Bretone hätte recht gut, was die ge-
samte Richtung seines Denkens und Fühlens anbetrifft, im Herzen
Germaniens geboren sein können: ein typischer Kelte in der düsteren
Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebes-
leben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem
teutonischen Blut; er ist ein Germane. Ebenso Germane wie jene soge-
nannt "kerndeutsche" Bevölkerung Schwabens und des Schwarzwaldes,
der Heimat Schiller's, Goethe's, Mozart's und vieler anderer grössten
"Deutschen", welche ihren besonderen Charakter und ihre ungewöhn-
liche poetische Veranlagung ohne Zweifel der starken Beimischung
keltischen Blutes verdankt.1) Diesen selben Geist Abälard's erkennen
wir überall am Werke, wo Kelten nachweisbar in grossen Zahlen vor-
handen waren, wie in der Heimat der unglücklichen Albigenser im Süden
Frankreichs, oder es noch sind, wie in dem Geburtsland der Methodisten,
Wales. Ja, wir erkennen ihn auch in der angeblich stockkatholischen
Bretagne, denn Katholizismus und Protestantismus sind zunächst blosse
Worte; die Religiosität der Bretonen ist echt, in Wahrheit aber ihrer
Farbe nach eher "heidnisch" als christlich; hier lebt uralte Volks-
religion unter katholischer Maske fort; ausserdem, wer erblickte nicht
in der unentwurzelbaren Königstreue dieses Volkes einen ebenso gemein-
germanischen Zug wie in der Kriegslust und Fahnentreue der Iren,
die politisch gegen England schüren, zugleich aber drei Viertel der
englischen Armee freiwillig stellen und für den fremden König, den
sie zu Hause bekämpfen, in fernen Ländern sterben? -- Am auf-
fallendsten tritt jedoch ohne Frage die Zusammengehörigkeit zwischen
Kelten und Germanen (im engeren Sinne des Wortes) in ihrer Dichtung
zu Tage. Von Beginn an sind fränkische, deutsche und englische
Dichtung mit echt keltischer innig verwoben, nicht etwa als besässen
jene nicht ebenfalls eigene Motive, sie nehmen aber die keltischen als
urverwandte auf, denen ein gewisser Anstrich des Fremden, des nicht
völlig Verstandenen, weil halb Vergessenen, eher erhöhten Reiz und
kostbare Würze verleiht. Die keltische Poesie ist eine unvergleichlich
tiefsinnige, an symbolischer Bedeutung unerschöpflich reiche, sie war
offenbar an ihrem fernsten Ursprung mit der Seele unserer germanischen
Dichtung, der Musik, innig verwoben. Wenn wir unter den grösseren
Schöpfungen Musterung halten, welche bei dem Wiedererwachen des

1) Wilhelm Henke: Der Typus des germanischen Menschen (Tübingen, 1895).
Ähnlich Treitschke: Politik I, 279.

Die Erben.
lebte; und ich behaupte, dieser Bretone hätte recht gut, was die ge-
samte Richtung seines Denkens und Fühlens anbetrifft, im Herzen
Germaniens geboren sein können: ein typischer Kelte in der düsteren
Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebes-
leben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem
teutonischen Blut; er ist ein Germane. Ebenso Germane wie jene soge-
nannt »kerndeutsche« Bevölkerung Schwabens und des Schwarzwaldes,
der Heimat Schiller’s, Goethe’s, Mozart’s und vieler anderer grössten
»Deutschen«, welche ihren besonderen Charakter und ihre ungewöhn-
liche poetische Veranlagung ohne Zweifel der starken Beimischung
keltischen Blutes verdankt.1) Diesen selben Geist Abälard’s erkennen
wir überall am Werke, wo Kelten nachweisbar in grossen Zahlen vor-
handen waren, wie in der Heimat der unglücklichen Albigenser im Süden
Frankreichs, oder es noch sind, wie in dem Geburtsland der Methodisten,
Wales. Ja, wir erkennen ihn auch in der angeblich stockkatholischen
Bretagne, denn Katholizismus und Protestantismus sind zunächst blosse
Worte; die Religiosität der Bretonen ist echt, in Wahrheit aber ihrer
Farbe nach eher »heidnisch« als christlich; hier lebt uralte Volks-
religion unter katholischer Maske fort; ausserdem, wer erblickte nicht
in der unentwurzelbaren Königstreue dieses Volkes einen ebenso gemein-
germanischen Zug wie in der Kriegslust und Fahnentreue der Iren,
die politisch gegen England schüren, zugleich aber drei Viertel der
englischen Armee freiwillig stellen und für den fremden König, den
sie zu Hause bekämpfen, in fernen Ländern sterben? — Am auf-
fallendsten tritt jedoch ohne Frage die Zusammengehörigkeit zwischen
Kelten und Germanen (im engeren Sinne des Wortes) in ihrer Dichtung
zu Tage. Von Beginn an sind fränkische, deutsche und englische
Dichtung mit echt keltischer innig verwoben, nicht etwa als besässen
jene nicht ebenfalls eigene Motive, sie nehmen aber die keltischen als
urverwandte auf, denen ein gewisser Anstrich des Fremden, des nicht
völlig Verstandenen, weil halb Vergessenen, eher erhöhten Reiz und
kostbare Würze verleiht. Die keltische Poesie ist eine unvergleichlich
tiefsinnige, an symbolischer Bedeutung unerschöpflich reiche, sie war
offenbar an ihrem fernsten Ursprung mit der Seele unserer germanischen
Dichtung, der Musik, innig verwoben. Wenn wir unter den grösseren
Schöpfungen Musterung halten, welche bei dem Wiedererwachen des

1) Wilhelm Henke: Der Typus des germanischen Menschen (Tübingen, 1895).
Ähnlich Treitschke: Politik I, 279.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0493" n="470"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/>
lebte; und ich behaupte, dieser Bretone hätte recht gut, was die ge-<lb/>
samte Richtung seines Denkens und Fühlens anbetrifft, im Herzen<lb/>
Germaniens geboren sein können: ein typischer Kelte in der düsteren<lb/>
Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebes-<lb/>
leben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem<lb/>
teutonischen Blut; er ist ein Germane. Ebenso Germane wie jene soge-<lb/>
nannt »kerndeutsche« Bevölkerung Schwabens und des Schwarzwaldes,<lb/>
der Heimat Schiller&#x2019;s, Goethe&#x2019;s, Mozart&#x2019;s und vieler anderer grössten<lb/>
»Deutschen«, welche ihren besonderen Charakter und ihre ungewöhn-<lb/>
liche poetische Veranlagung ohne Zweifel der starken Beimischung<lb/>
keltischen Blutes verdankt.<note place="foot" n="1)">Wilhelm Henke: <hi rendition="#i">Der Typus des germanischen Menschen</hi> (Tübingen, 1895).<lb/>
Ähnlich Treitschke: <hi rendition="#i">Politik</hi> I, 279.</note> Diesen selben Geist Abälard&#x2019;s erkennen<lb/>
wir überall am Werke, wo Kelten nachweisbar in grossen Zahlen vor-<lb/>
handen waren, wie in der Heimat der unglücklichen Albigenser im Süden<lb/>
Frankreichs, oder es noch sind, wie in dem Geburtsland der Methodisten,<lb/>
Wales. Ja, wir erkennen ihn auch in der angeblich stockkatholischen<lb/>
Bretagne, denn Katholizismus und Protestantismus sind zunächst blosse<lb/>
Worte; die Religiosität der Bretonen ist echt, in Wahrheit aber ihrer<lb/>
Farbe nach eher »heidnisch« als christlich; hier lebt uralte Volks-<lb/>
religion unter katholischer Maske fort; ausserdem, wer erblickte nicht<lb/>
in der unentwurzelbaren Königstreue dieses Volkes einen ebenso gemein-<lb/>
germanischen Zug wie in der Kriegslust und Fahnentreue der Iren,<lb/>
die politisch gegen England schüren, zugleich aber drei Viertel der<lb/>
englischen Armee freiwillig stellen und für den fremden König, den<lb/>
sie zu Hause bekämpfen, in fernen Ländern sterben? &#x2014; Am auf-<lb/>
fallendsten tritt jedoch ohne Frage die Zusammengehörigkeit zwischen<lb/>
Kelten und Germanen (im engeren Sinne des Wortes) in ihrer <hi rendition="#g">Dichtung</hi><lb/>
zu Tage. Von Beginn an sind fränkische, deutsche und englische<lb/>
Dichtung mit echt keltischer innig verwoben, nicht etwa als besässen<lb/>
jene nicht ebenfalls eigene Motive, sie nehmen aber die keltischen als<lb/>
urverwandte auf, denen ein gewisser Anstrich des Fremden, des nicht<lb/>
völlig Verstandenen, weil halb Vergessenen, eher erhöhten Reiz und<lb/>
kostbare Würze verleiht. Die keltische Poesie ist eine unvergleichlich<lb/>
tiefsinnige, an symbolischer Bedeutung unerschöpflich reiche, sie war<lb/>
offenbar an ihrem fernsten Ursprung mit der Seele unserer germanischen<lb/>
Dichtung, der Musik, innig verwoben. Wenn wir unter den grösseren<lb/>
Schöpfungen Musterung halten, welche bei dem Wiedererwachen des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[470/0493] Die Erben. lebte; und ich behaupte, dieser Bretone hätte recht gut, was die ge- samte Richtung seines Denkens und Fühlens anbetrifft, im Herzen Germaniens geboren sein können: ein typischer Kelte in der düsteren Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebes- leben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut; er ist ein Germane. Ebenso Germane wie jene soge- nannt »kerndeutsche« Bevölkerung Schwabens und des Schwarzwaldes, der Heimat Schiller’s, Goethe’s, Mozart’s und vieler anderer grössten »Deutschen«, welche ihren besonderen Charakter und ihre ungewöhn- liche poetische Veranlagung ohne Zweifel der starken Beimischung keltischen Blutes verdankt. 1) Diesen selben Geist Abälard’s erkennen wir überall am Werke, wo Kelten nachweisbar in grossen Zahlen vor- handen waren, wie in der Heimat der unglücklichen Albigenser im Süden Frankreichs, oder es noch sind, wie in dem Geburtsland der Methodisten, Wales. Ja, wir erkennen ihn auch in der angeblich stockkatholischen Bretagne, denn Katholizismus und Protestantismus sind zunächst blosse Worte; die Religiosität der Bretonen ist echt, in Wahrheit aber ihrer Farbe nach eher »heidnisch« als christlich; hier lebt uralte Volks- religion unter katholischer Maske fort; ausserdem, wer erblickte nicht in der unentwurzelbaren Königstreue dieses Volkes einen ebenso gemein- germanischen Zug wie in der Kriegslust und Fahnentreue der Iren, die politisch gegen England schüren, zugleich aber drei Viertel der englischen Armee freiwillig stellen und für den fremden König, den sie zu Hause bekämpfen, in fernen Ländern sterben? — Am auf- fallendsten tritt jedoch ohne Frage die Zusammengehörigkeit zwischen Kelten und Germanen (im engeren Sinne des Wortes) in ihrer Dichtung zu Tage. Von Beginn an sind fränkische, deutsche und englische Dichtung mit echt keltischer innig verwoben, nicht etwa als besässen jene nicht ebenfalls eigene Motive, sie nehmen aber die keltischen als urverwandte auf, denen ein gewisser Anstrich des Fremden, des nicht völlig Verstandenen, weil halb Vergessenen, eher erhöhten Reiz und kostbare Würze verleiht. Die keltische Poesie ist eine unvergleichlich tiefsinnige, an symbolischer Bedeutung unerschöpflich reiche, sie war offenbar an ihrem fernsten Ursprung mit der Seele unserer germanischen Dichtung, der Musik, innig verwoben. Wenn wir unter den grösseren Schöpfungen Musterung halten, welche bei dem Wiedererwachen des 1) Wilhelm Henke: Der Typus des germanischen Menschen (Tübingen, 1895). Ähnlich Treitschke: Politik I, 279.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/493
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/493>, abgerufen am 13.09.2024.