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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die
Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen
Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille
von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschen-
geschlecht niederging, -- jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses
Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart. Daher,
wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Buche ausführte, die un-
vergleichliche weltgeschichtliche Bedeutung des Lebens Christi. Keine
politische Revolution kann dieser gleichkommen.

Weltgeschichtlich aufgefasst haben wir allen Grund, die That
Christi mit den Thaten der Hellenen in Parallele zu stellen. Ich
habe im ersten Kapitel ausgeführt, inwiefern Homer, Demokrit,
Plato u. s. w. als wirkliche "Schöpfer" zu betrachten sind, und ich
fügte hinzu: "dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren,
dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur
zu heissen einzig verdient, ist die Tochter solcher schöpferischen
Freiheit".1) Was das Griechentum für den Intellekt, das that Christus
für das sittliche Leben: eine sittliche Kultur hat die Menschheit
erst durch ihn gewonnen. Vielmehr müsste ich sagen: die Mög-
lichkeit
einer sittlichen Kultur; denn das kulturelle Moment ist
jener innere, schöpferische Vorgang, die freiwillige, herrische Umkehr
des Willens, und gerade dieses Moment blieb mit wenigen Ausnahmen
gänzlich unbeachtet; das Christentum wurde eine durchaus historische
Religion und an den Altären seiner Kirchen fanden alle Aberglauben
des Altertums und des Judentums eine geweihte Zufluchtsstätte.
Dennoch bleibt die Erscheinung Christi die alleinzige Grundlage aller
sittlichen Kultur, und in dem Masse, in welchem diese Erscheinung
mehr oder weniger deutlich hindurchzudringen vermag, ist auch die
sittliche Kultur unserer Nationen eine grössere oder geringere.

Gerade in diesem Zusammenhange können wir nun mit Recht
behaupten, die Erscheinung Christi auf Erden habe die Menschheit in
zwei Klassen gespalten. Sie erst schuf wahren Adel, und zwar echten
Geburtsadel, denn nur, wer erwählt ist, kann Christ sein. Sie senkte
aber zugleich in die Herzen ihrer Auserwählten den Keim zu neuem,
bitterem Leid: sie schied sie von Vater und Mutter, sie liess sie einsam
wandeln unter Menschen, die sie nicht verstanden, sie stempelte sie
zu Märtyrern. Und wer ist denn ganz Herr? wer hat seine Sklaven-

1) Siehe S. 62.

Die Erscheinung Christi.
zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die
Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen
Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille
von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschen-
geschlecht niederging, — jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses
Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart. Daher,
wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Buche ausführte, die un-
vergleichliche weltgeschichtliche Bedeutung des Lebens Christi. Keine
politische Revolution kann dieser gleichkommen.

Weltgeschichtlich aufgefasst haben wir allen Grund, die That
Christi mit den Thaten der Hellenen in Parallele zu stellen. Ich
habe im ersten Kapitel ausgeführt, inwiefern Homer, Demokrit,
Plato u. s. w. als wirkliche »Schöpfer« zu betrachten sind, und ich
fügte hinzu: »dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren,
dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur
zu heissen einzig verdient, ist die Tochter solcher schöpferischen
Freiheit«.1) Was das Griechentum für den Intellekt, das that Christus
für das sittliche Leben: eine sittliche Kultur hat die Menschheit
erst durch ihn gewonnen. Vielmehr müsste ich sagen: die Mög-
lichkeit
einer sittlichen Kultur; denn das kulturelle Moment ist
jener innere, schöpferische Vorgang, die freiwillige, herrische Umkehr
des Willens, und gerade dieses Moment blieb mit wenigen Ausnahmen
gänzlich unbeachtet; das Christentum wurde eine durchaus historische
Religion und an den Altären seiner Kirchen fanden alle Aberglauben
des Altertums und des Judentums eine geweihte Zufluchtsstätte.
Dennoch bleibt die Erscheinung Christi die alleinzige Grundlage aller
sittlichen Kultur, und in dem Masse, in welchem diese Erscheinung
mehr oder weniger deutlich hindurchzudringen vermag, ist auch die
sittliche Kultur unserer Nationen eine grössere oder geringere.

Gerade in diesem Zusammenhange können wir nun mit Recht
behaupten, die Erscheinung Christi auf Erden habe die Menschheit in
zwei Klassen gespalten. Sie erst schuf wahren Adel, und zwar echten
Geburtsadel, denn nur, wer erwählt ist, kann Christ sein. Sie senkte
aber zugleich in die Herzen ihrer Auserwählten den Keim zu neuem,
bitterem Leid: sie schied sie von Vater und Mutter, sie liess sie einsam
wandeln unter Menschen, die sie nicht verstanden, sie stempelte sie
zu Märtyrern. Und wer ist denn ganz Herr? wer hat seine Sklaven-

1) Siehe S. 62.
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[207/0230] Die Erscheinung Christi. zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschen- geschlecht niederging, — jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart. Daher, wie ich bereits in der Einleitung zu diesem Buche ausführte, die un- vergleichliche weltgeschichtliche Bedeutung des Lebens Christi. Keine politische Revolution kann dieser gleichkommen. Weltgeschichtlich aufgefasst haben wir allen Grund, die That Christi mit den Thaten der Hellenen in Parallele zu stellen. Ich habe im ersten Kapitel ausgeführt, inwiefern Homer, Demokrit, Plato u. s. w. als wirkliche »Schöpfer« zu betrachten sind, und ich fügte hinzu: »dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos. Was Kultur zu heissen einzig verdient, ist die Tochter solcher schöpferischen Freiheit«. 1) Was das Griechentum für den Intellekt, das that Christus für das sittliche Leben: eine sittliche Kultur hat die Menschheit erst durch ihn gewonnen. Vielmehr müsste ich sagen: die Mög- lichkeit einer sittlichen Kultur; denn das kulturelle Moment ist jener innere, schöpferische Vorgang, die freiwillige, herrische Umkehr des Willens, und gerade dieses Moment blieb mit wenigen Ausnahmen gänzlich unbeachtet; das Christentum wurde eine durchaus historische Religion und an den Altären seiner Kirchen fanden alle Aberglauben des Altertums und des Judentums eine geweihte Zufluchtsstätte. Dennoch bleibt die Erscheinung Christi die alleinzige Grundlage aller sittlichen Kultur, und in dem Masse, in welchem diese Erscheinung mehr oder weniger deutlich hindurchzudringen vermag, ist auch die sittliche Kultur unserer Nationen eine grössere oder geringere. Gerade in diesem Zusammenhange können wir nun mit Recht behaupten, die Erscheinung Christi auf Erden habe die Menschheit in zwei Klassen gespalten. Sie erst schuf wahren Adel, und zwar echten Geburtsadel, denn nur, wer erwählt ist, kann Christ sein. Sie senkte aber zugleich in die Herzen ihrer Auserwählten den Keim zu neuem, bitterem Leid: sie schied sie von Vater und Mutter, sie liess sie einsam wandeln unter Menschen, die sie nicht verstanden, sie stempelte sie zu Märtyrern. Und wer ist denn ganz Herr? wer hat seine Sklaven- 1) Siehe S. 62.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/230>, abgerufen am 24.11.2024.