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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
instinkte ganz überwunden? Die Zwietracht zerriss fortan die eigene
Seele. Und während dem Einzelnen, der bisher im Taumel des
Lebenskampfes kaum zum Bewusstsein seines "Ich" gekommen war,
eine ungeahnt hohe Vorstellung seiner Würde, seiner inneren Bedeutung
und Machtfülle vorgehalten wurde, wie oft musste er nicht innerlich
zusammenstürzen in dem Gefühl seiner Schwäche und seiner Un-
würde? Jetzt erst wurde das Leben wahrhaft tragisch. Die freie That
des Menschen, der sich gegen seine eigene animalische Natur erhob,
hatte das vollbracht. "Aus einem vollkommenen Zögling der Natur
wurde der Mensch ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem
glücklichen Instrumente ein unglücklicher Künstler", sagt Schiller.
Der Mensch will aber nicht mehr ein Instrument sein; und hatte
Homer sich Götter geschaffen, wie er sie wollte, so empörte sich jetzt
der Mensch gegen die moralische Tyrannei der Natur und schuf sich
eine erhabene Moral, wie er sie wollte; nicht mehr den blinden
Trieben, und wären sie noch so schön durch Gesetzesparagraphen ein-
gedämmt und eingezwängt, will er gehorchen, sondern einzig seinem
eigenen Sittengesetz. In Christus erwacht der Mensch zum Bewusstsein
seines moralischen Berufs, dadurch aber zugleich zur Notwendigkeit eines
nach Jahrtausenden zählenden Krieges. Im Abschnitt "Weltanschauung"
des neunten Kapitels werde ich zeigen, dass wir endlich, mit Kant, genau
dieselbe Bahn betreten haben nach vielhundertjähriger antichristlicher
Unterbrechung. "Rückkehr zur Natur", meinten die christoabgewandten,
humanitären Deisten des vergangenen Jahrhunderts: o nein! Emanzi-
pierung von der Natur, ohne die wir zwar nichts können, die wir
aber entschlossen sind, uns zu unterwerfen. In Kunst und Philosophie
wird sich der Mensch als intellektuelles Wesen, in der Ehe und im
Recht als gesellschaftliches Wesen, in Christus als sittliches Wesen
seiner selbst im Gegensatz zur Natur bewusst. Er nimmt einen Kampf
auf. Und da genügt nicht die Demut; wer Christo folgen will,
braucht vor allem Mut, Mut in seiner geläutertsten Form, jenen täglich
von Neuem geglühten und gehärteten inneren Mut, der nicht allein
im sinnenberauschenden Schlachtgetöse sich bewährt, sondern im Dulden
und Tragen, und in dem wortlosen, lautlosen Kampf jeder Stunde
gegen die Sklaveninstinkte in der eigenen Brust. Das Beispiel ist
gegeben. Denn in der Erscheinung Christi finden wir das hehrste
Beispiel des Heldenmutes. Die moralische Heldenhaftigkeit ist hier so
erhaben, dass wir fast achtlos an dem sonst bei Helden so viel ge-
priesenen physischen Mute vorbeigehen; gewisslich können nur Helden-

Das Erbe der alten Welt.
instinkte ganz überwunden? Die Zwietracht zerriss fortan die eigene
Seele. Und während dem Einzelnen, der bisher im Taumel des
Lebenskampfes kaum zum Bewusstsein seines »Ich« gekommen war,
eine ungeahnt hohe Vorstellung seiner Würde, seiner inneren Bedeutung
und Machtfülle vorgehalten wurde, wie oft musste er nicht innerlich
zusammenstürzen in dem Gefühl seiner Schwäche und seiner Un-
würde? Jetzt erst wurde das Leben wahrhaft tragisch. Die freie That
des Menschen, der sich gegen seine eigene animalische Natur erhob,
hatte das vollbracht. »Aus einem vollkommenen Zögling der Natur
wurde der Mensch ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem
glücklichen Instrumente ein unglücklicher Künstler«, sagt Schiller.
Der Mensch will aber nicht mehr ein Instrument sein; und hatte
Homer sich Götter geschaffen, wie er sie wollte, so empörte sich jetzt
der Mensch gegen die moralische Tyrannei der Natur und schuf sich
eine erhabene Moral, wie er sie wollte; nicht mehr den blinden
Trieben, und wären sie noch so schön durch Gesetzesparagraphen ein-
gedämmt und eingezwängt, will er gehorchen, sondern einzig seinem
eigenen Sittengesetz. In Christus erwacht der Mensch zum Bewusstsein
seines moralischen Berufs, dadurch aber zugleich zur Notwendigkeit eines
nach Jahrtausenden zählenden Krieges. Im Abschnitt »Weltanschauung«
des neunten Kapitels werde ich zeigen, dass wir endlich, mit Kant, genau
dieselbe Bahn betreten haben nach vielhundertjähriger antichristlicher
Unterbrechung. »Rückkehr zur Natur«, meinten die christoabgewandten,
humanitären Deisten des vergangenen Jahrhunderts: o nein! Emanzi-
pierung von der Natur, ohne die wir zwar nichts können, die wir
aber entschlossen sind, uns zu unterwerfen. In Kunst und Philosophie
wird sich der Mensch als intellektuelles Wesen, in der Ehe und im
Recht als gesellschaftliches Wesen, in Christus als sittliches Wesen
seiner selbst im Gegensatz zur Natur bewusst. Er nimmt einen Kampf
auf. Und da genügt nicht die Demut; wer Christo folgen will,
braucht vor allem Mut, Mut in seiner geläutertsten Form, jenen täglich
von Neuem geglühten und gehärteten inneren Mut, der nicht allein
im sinnenberauschenden Schlachtgetöse sich bewährt, sondern im Dulden
und Tragen, und in dem wortlosen, lautlosen Kampf jeder Stunde
gegen die Sklaveninstinkte in der eigenen Brust. Das Beispiel ist
gegeben. Denn in der Erscheinung Christi finden wir das hehrste
Beispiel des Heldenmutes. Die moralische Heldenhaftigkeit ist hier so
erhaben, dass wir fast achtlos an dem sonst bei Helden so viel ge-
priesenen physischen Mute vorbeigehen; gewisslich können nur Helden-

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[208/0231] Das Erbe der alten Welt. instinkte ganz überwunden? Die Zwietracht zerriss fortan die eigene Seele. Und während dem Einzelnen, der bisher im Taumel des Lebenskampfes kaum zum Bewusstsein seines »Ich« gekommen war, eine ungeahnt hohe Vorstellung seiner Würde, seiner inneren Bedeutung und Machtfülle vorgehalten wurde, wie oft musste er nicht innerlich zusammenstürzen in dem Gefühl seiner Schwäche und seiner Un- würde? Jetzt erst wurde das Leben wahrhaft tragisch. Die freie That des Menschen, der sich gegen seine eigene animalische Natur erhob, hatte das vollbracht. »Aus einem vollkommenen Zögling der Natur wurde der Mensch ein unvollkommenes moralisches Wesen, aus einem glücklichen Instrumente ein unglücklicher Künstler«, sagt Schiller. Der Mensch will aber nicht mehr ein Instrument sein; und hatte Homer sich Götter geschaffen, wie er sie wollte, so empörte sich jetzt der Mensch gegen die moralische Tyrannei der Natur und schuf sich eine erhabene Moral, wie er sie wollte; nicht mehr den blinden Trieben, und wären sie noch so schön durch Gesetzesparagraphen ein- gedämmt und eingezwängt, will er gehorchen, sondern einzig seinem eigenen Sittengesetz. In Christus erwacht der Mensch zum Bewusstsein seines moralischen Berufs, dadurch aber zugleich zur Notwendigkeit eines nach Jahrtausenden zählenden Krieges. Im Abschnitt »Weltanschauung« des neunten Kapitels werde ich zeigen, dass wir endlich, mit Kant, genau dieselbe Bahn betreten haben nach vielhundertjähriger antichristlicher Unterbrechung. »Rückkehr zur Natur«, meinten die christoabgewandten, humanitären Deisten des vergangenen Jahrhunderts: o nein! Emanzi- pierung von der Natur, ohne die wir zwar nichts können, die wir aber entschlossen sind, uns zu unterwerfen. In Kunst und Philosophie wird sich der Mensch als intellektuelles Wesen, in der Ehe und im Recht als gesellschaftliches Wesen, in Christus als sittliches Wesen seiner selbst im Gegensatz zur Natur bewusst. Er nimmt einen Kampf auf. Und da genügt nicht die Demut; wer Christo folgen will, braucht vor allem Mut, Mut in seiner geläutertsten Form, jenen täglich von Neuem geglühten und gehärteten inneren Mut, der nicht allein im sinnenberauschenden Schlachtgetöse sich bewährt, sondern im Dulden und Tragen, und in dem wortlosen, lautlosen Kampf jeder Stunde gegen die Sklaveninstinkte in der eigenen Brust. Das Beispiel ist gegeben. Denn in der Erscheinung Christi finden wir das hehrste Beispiel des Heldenmutes. Die moralische Heldenhaftigkeit ist hier so erhaben, dass wir fast achtlos an dem sonst bei Helden so viel ge- priesenen physischen Mute vorbeigehen; gewisslich können nur Helden-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/231>, abgerufen am 18.05.2024.