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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
zum Ausschlagen bringt. Wahrlich, es muss ein "neuer Adam" sein,
der so Herr seines "alten Adam" geworden ist, dass er diesem Zwange
nicht gehorcht. Blosse Selbstbeherrschung ist es jedoch nicht -- denn
bildet Buddha den einen Gegenpol zu Christus, so bildet der Stoiker
den anderen --, jene Umkehr des Willens aber, jener Eintritt in das
verborgene Reich Gottes, jenes von Neuem geboren werden, welches
die Summe von Christi Beispiel ausmacht, bedingt ohne Weiteres eine
völlige Umkehr der Empfindungen. Das ist eben das Neue. Bis
auf Christus war die Blutrache das heilige Gesetz aller Menschen der
verschiedensten Rassen; der Gekreuzigte aber rief: "Vater, vergieb
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun". Wer nun hier die
göttliche Stimme des Mitleids für schwächlichen Humanitarismus nimmt,
der hat keinen einzigen Zug an der Erscheinung Christi verstanden.
Die Stimme, die hier redet, ertönt aus jenem Reich Gottes inwendig
in uns; Schmerz und Tod haben die Gewalt über sie verloren; sie
reichen ebensowenig an einen Wiedergeborenen heran, wie jener Backen-
streich und jene diebische Entblössung; an diesem Willen bricht sich
wie eitler Meeresschaum an einem granitnen Felsen alles, was den
menschlichen Halbaffen treibt und drängt und nötigt: die Selbstsucht,
der Aberglaube, das Vorurteil, der Neid, der Hass; im Angesicht des
Todes (d. h. für diesen Göttlichen der Ewigkeit) achtet er kaum des
eigenen Schmerzes und der Angst, er sieht nur, dass die Menschen
das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des
Himmelreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll
Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun! Man durchsuche die
Weltgeschichte und sehe, ob man ein Wort finde, das diesem gleich-
käme an hochsinnigem Stolz! Hier redet eine Erkenntnis, die weiter
geschaut hat als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille,
das sicherste Selbstbewusstsein.

Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu
Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen
Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahr-
genommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig
und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser
Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen
herzuleiten, -- so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin,
drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menschen-
innern, eine Kraft, fähig den Menschen selber völlig umzugestalten,
fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen, ein mächtiges, seliges

Das Erbe der alten Welt.
zum Ausschlagen bringt. Wahrlich, es muss ein »neuer Adam« sein,
der so Herr seines »alten Adam« geworden ist, dass er diesem Zwange
nicht gehorcht. Blosse Selbstbeherrschung ist es jedoch nicht — denn
bildet Buddha den einen Gegenpol zu Christus, so bildet der Stoiker
den anderen —, jene Umkehr des Willens aber, jener Eintritt in das
verborgene Reich Gottes, jenes von Neuem geboren werden, welches
die Summe von Christi Beispiel ausmacht, bedingt ohne Weiteres eine
völlige Umkehr der Empfindungen. Das ist eben das Neue. Bis
auf Christus war die Blutrache das heilige Gesetz aller Menschen der
verschiedensten Rassen; der Gekreuzigte aber rief: »Vater, vergieb
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun«. Wer nun hier die
göttliche Stimme des Mitleids für schwächlichen Humanitarismus nimmt,
der hat keinen einzigen Zug an der Erscheinung Christi verstanden.
Die Stimme, die hier redet, ertönt aus jenem Reich Gottes inwendig
in uns; Schmerz und Tod haben die Gewalt über sie verloren; sie
reichen ebensowenig an einen Wiedergeborenen heran, wie jener Backen-
streich und jene diebische Entblössung; an diesem Willen bricht sich
wie eitler Meeresschaum an einem granitnen Felsen alles, was den
menschlichen Halbaffen treibt und drängt und nötigt: die Selbstsucht,
der Aberglaube, das Vorurteil, der Neid, der Hass; im Angesicht des
Todes (d. h. für diesen Göttlichen der Ewigkeit) achtet er kaum des
eigenen Schmerzes und der Angst, er sieht nur, dass die Menschen
das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des
Himmelreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll
Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun! Man durchsuche die
Weltgeschichte und sehe, ob man ein Wort finde, das diesem gleich-
käme an hochsinnigem Stolz! Hier redet eine Erkenntnis, die weiter
geschaut hat als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille,
das sicherste Selbstbewusstsein.

Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu
Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen
Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahr-
genommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig
und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser
Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen
herzuleiten, — so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin,
drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menschen-
innern, eine Kraft, fähig den Menschen selber völlig umzugestalten,
fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen, ein mächtiges, seliges

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[206/0229] Das Erbe der alten Welt. zum Ausschlagen bringt. Wahrlich, es muss ein »neuer Adam« sein, der so Herr seines »alten Adam« geworden ist, dass er diesem Zwange nicht gehorcht. Blosse Selbstbeherrschung ist es jedoch nicht — denn bildet Buddha den einen Gegenpol zu Christus, so bildet der Stoiker den anderen —, jene Umkehr des Willens aber, jener Eintritt in das verborgene Reich Gottes, jenes von Neuem geboren werden, welches die Summe von Christi Beispiel ausmacht, bedingt ohne Weiteres eine völlige Umkehr der Empfindungen. Das ist eben das Neue. Bis auf Christus war die Blutrache das heilige Gesetz aller Menschen der verschiedensten Rassen; der Gekreuzigte aber rief: »Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun«. Wer nun hier die göttliche Stimme des Mitleids für schwächlichen Humanitarismus nimmt, der hat keinen einzigen Zug an der Erscheinung Christi verstanden. Die Stimme, die hier redet, ertönt aus jenem Reich Gottes inwendig in uns; Schmerz und Tod haben die Gewalt über sie verloren; sie reichen ebensowenig an einen Wiedergeborenen heran, wie jener Backen- streich und jene diebische Entblössung; an diesem Willen bricht sich wie eitler Meeresschaum an einem granitnen Felsen alles, was den menschlichen Halbaffen treibt und drängt und nötigt: die Selbstsucht, der Aberglaube, das Vorurteil, der Neid, der Hass; im Angesicht des Todes (d. h. für diesen Göttlichen der Ewigkeit) achtet er kaum des eigenen Schmerzes und der Angst, er sieht nur, dass die Menschen das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des Himmelreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun! Man durchsuche die Weltgeschichte und sehe, ob man ein Wort finde, das diesem gleich- käme an hochsinnigem Stolz! Hier redet eine Erkenntnis, die weiter geschaut hat als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille, das sicherste Selbstbewusstsein. Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahr- genommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen herzuleiten, — so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin, drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menschen- innern, eine Kraft, fähig den Menschen selber völlig umzugestalten, fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen, ein mächtiges, seliges

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/229>, abgerufen am 24.11.2024.