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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
dem Acker, "das kleinste unter allen Samen", wird es aber vom
Landmann gepflegt, so wächst es aus zu einem Baume, "dass die
Vögel unter dem Himmel kommen, und wohnen unter seinen Zweigen";
das Himmelreich ist wie der Sauerteig unter dem Mehl, nimmt das
Weib auch nur ein wenig, es durchsetzt das Ganze; am deutlichsten jedoch
redet folgendes Bild: "das Himmelreich ist gleich einem verborgenen
Schatz im Acker". Dass der Acker die Welt bedeutet, sagt Christus
ausdrücklich (siehe Matthäus XIII, 38); in dieser Welt, d. h. also in
diesem Leben, liegt der Schatz verborgen; vergraben ist das Himmel-
reich inwendig in uns! Das ist "das Geheimnis des Himmelreiches",
wie Christus sagt; zugleich ist es das Geheimnis seines eigenen Lebens,
das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Eine Abwendung vom Leben
(wie bei Buddha) findet bei Christus durchaus nicht statt, dagegen eine
Umkehrung der Lebensrichtung, wenn ich so sagen darf; wie
denn Christus zu seinen Jüngern spricht: "Wahrlich, ich sage euch,
es sei denn, dass ihr euch umkehret, so werdet ihr nicht in das
Himmelreich kommen".1) Später erhielt dann -- vielleicht von fremder
Hand -- diese so handgreiflich fassliche "Umkehrung" den mehr
mystischen Ausdruck: "Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren
werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen". Auf den Wortlaut
kommt es nicht an, sondern einzig auf die zu Grunde liegende Vor-
stellung, und diese Vorstellung steht leuchtend klar vor uns, denn sie
gestaltete das ganze Leben Christi. Hier finden wir nicht, (wie bei
Buddha) eine Lehre mit eins, zwei, drei, logisch auseinander ent-
wickelt; noch findet, wie die Oberflächlichkeit so häufig behauptet
hat, irgend eine organische Berührung mit jüdischer Weisheit statt:
man lese nur Jesus Sirach, den am häufigsten zum Vergleich heran-
gezogenen, und frage sich, ob das Geist vom selben Geiste ist? bei
Sirach redet ein jüdischer Marc Aurel, und selbst seine schönsten
Sprüche, wie: "Strebet nach der Wahrheit bis zum Tode, und Gott
wird für dich kämpfen", oder "Das Herz des Narren liegt ihm auf
der Zunge, doch des Weisen Zunge wohnet ihm im Herzen" --
klingen wie aus einer andern Welt, wenn man sie neben die Sprüche
Christi hält: "Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erd-
reich besitzen; selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden

1) Der Nachdruck liegt offenbar nicht auf dem Nachsatz "und werdet wie die
Kinder"; vielmehr ist dies eine Erläuterung zur Umkehr. Was zeichnet denn die
Kinder aus? Die unbedingte Lebenslust und die ungeschmälerte Kraft, das Leben
durch eigene Gesinnung zu verklären.

Das Erbe der alten Welt.
dem Acker, »das kleinste unter allen Samen«, wird es aber vom
Landmann gepflegt, so wächst es aus zu einem Baume, »dass die
Vögel unter dem Himmel kommen, und wohnen unter seinen Zweigen«;
das Himmelreich ist wie der Sauerteig unter dem Mehl, nimmt das
Weib auch nur ein wenig, es durchsetzt das Ganze; am deutlichsten jedoch
redet folgendes Bild: »das Himmelreich ist gleich einem verborgenen
Schatz im Acker«. Dass der Acker die Welt bedeutet, sagt Christus
ausdrücklich (siehe Matthäus XIII, 38); in dieser Welt, d. h. also in
diesem Leben, liegt der Schatz verborgen; vergraben ist das Himmel-
reich inwendig in uns! Das ist »das Geheimnis des Himmelreiches«,
wie Christus sagt; zugleich ist es das Geheimnis seines eigenen Lebens,
das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Eine Abwendung vom Leben
(wie bei Buddha) findet bei Christus durchaus nicht statt, dagegen eine
Umkehrung der Lebensrichtung, wenn ich so sagen darf; wie
denn Christus zu seinen Jüngern spricht: »Wahrlich, ich sage euch,
es sei denn, dass ihr euch umkehret, so werdet ihr nicht in das
Himmelreich kommen«.1) Später erhielt dann — vielleicht von fremder
Hand — diese so handgreiflich fassliche »Umkehrung« den mehr
mystischen Ausdruck: »Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren
werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen«. Auf den Wortlaut
kommt es nicht an, sondern einzig auf die zu Grunde liegende Vor-
stellung, und diese Vorstellung steht leuchtend klar vor uns, denn sie
gestaltete das ganze Leben Christi. Hier finden wir nicht, (wie bei
Buddha) eine Lehre mit eins, zwei, drei, logisch auseinander ent-
wickelt; noch findet, wie die Oberflächlichkeit so häufig behauptet
hat, irgend eine organische Berührung mit jüdischer Weisheit statt:
man lese nur Jesus Sirach, den am häufigsten zum Vergleich heran-
gezogenen, und frage sich, ob das Geist vom selben Geiste ist? bei
Sirach redet ein jüdischer Marc Aurel, und selbst seine schönsten
Sprüche, wie: »Strebet nach der Wahrheit bis zum Tode, und Gott
wird für dich kämpfen«, oder »Das Herz des Narren liegt ihm auf
der Zunge, doch des Weisen Zunge wohnet ihm im Herzen« —
klingen wie aus einer andern Welt, wenn man sie neben die Sprüche
Christi hält: »Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erd-
reich besitzen; selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden

1) Der Nachdruck liegt offenbar nicht auf dem Nachsatz »und werdet wie die
Kinder«; vielmehr ist dies eine Erläuterung zur Umkehr. Was zeichnet denn die
Kinder aus? Die unbedingte Lebenslust und die ungeschmälerte Kraft, das Leben
durch eigene Gesinnung zu verklären.
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[200/0223] Das Erbe der alten Welt. dem Acker, »das kleinste unter allen Samen«, wird es aber vom Landmann gepflegt, so wächst es aus zu einem Baume, »dass die Vögel unter dem Himmel kommen, und wohnen unter seinen Zweigen«; das Himmelreich ist wie der Sauerteig unter dem Mehl, nimmt das Weib auch nur ein wenig, es durchsetzt das Ganze; am deutlichsten jedoch redet folgendes Bild: »das Himmelreich ist gleich einem verborgenen Schatz im Acker«. Dass der Acker die Welt bedeutet, sagt Christus ausdrücklich (siehe Matthäus XIII, 38); in dieser Welt, d. h. also in diesem Leben, liegt der Schatz verborgen; vergraben ist das Himmel- reich inwendig in uns! Das ist »das Geheimnis des Himmelreiches«, wie Christus sagt; zugleich ist es das Geheimnis seines eigenen Lebens, das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Eine Abwendung vom Leben (wie bei Buddha) findet bei Christus durchaus nicht statt, dagegen eine Umkehrung der Lebensrichtung, wenn ich so sagen darf; wie denn Christus zu seinen Jüngern spricht: »Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, dass ihr euch umkehret, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen«. 1) Später erhielt dann — vielleicht von fremder Hand — diese so handgreiflich fassliche »Umkehrung« den mehr mystischen Ausdruck: »Es sei denn, dass Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen«. Auf den Wortlaut kommt es nicht an, sondern einzig auf die zu Grunde liegende Vor- stellung, und diese Vorstellung steht leuchtend klar vor uns, denn sie gestaltete das ganze Leben Christi. Hier finden wir nicht, (wie bei Buddha) eine Lehre mit eins, zwei, drei, logisch auseinander ent- wickelt; noch findet, wie die Oberflächlichkeit so häufig behauptet hat, irgend eine organische Berührung mit jüdischer Weisheit statt: man lese nur Jesus Sirach, den am häufigsten zum Vergleich heran- gezogenen, und frage sich, ob das Geist vom selben Geiste ist? bei Sirach redet ein jüdischer Marc Aurel, und selbst seine schönsten Sprüche, wie: »Strebet nach der Wahrheit bis zum Tode, und Gott wird für dich kämpfen«, oder »Das Herz des Narren liegt ihm auf der Zunge, doch des Weisen Zunge wohnet ihm im Herzen« — klingen wie aus einer andern Welt, wenn man sie neben die Sprüche Christi hält: »Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erd- reich besitzen; selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden 1) Der Nachdruck liegt offenbar nicht auf dem Nachsatz »und werdet wie die Kinder«; vielmehr ist dies eine Erläuterung zur Umkehr. Was zeichnet denn die Kinder aus? Die unbedingte Lebenslust und die ungeschmälerte Kraft, das Leben durch eigene Gesinnung zu verklären.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/223>, abgerufen am 18.05.2024.