Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Die Erscheinung Christi. spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, aufden keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab- schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu- geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man kann Buddha's Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen. Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts. Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser ErscheinungChristus. Die Erscheinung Christi. spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, aufden keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab- schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu- geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man kann Buddha’s Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen. Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts. Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser ErscheinungChristus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0222" n="199"/><fw place="top" type="header">Die Erscheinung Christi.</fw><lb/> spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf<lb/> den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig<lb/> dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also<lb/> aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben<lb/> fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab-<lb/> schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer<lb/> sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der<lb/> Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche<lb/> ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu-<lb/> geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man<lb/> kann Buddha’s Leben als den <hi rendition="#g">gelebten Selbstmord</hi> bezeichnen.<lb/> Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn<lb/> Buddha lebt einzig und allein, <hi rendition="#g">um zu sterben,</hi> um endgültig und<lb/> ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts.</p><lb/> <p>Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser Erscheinung<note place="right">Christus.</note><lb/> geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige <hi rendition="#g">Leben</hi><lb/> bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung;<lb/> kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt<lb/> kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt.<lb/> Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den<lb/> Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus<lb/> als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir<lb/> ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein<lb/> Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be-<lb/> lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus<lb/> in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt<lb/> worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es<lb/> wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er-<lb/> funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er-<lb/> kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur<lb/> Wenigen seinen Sinn enthüllt — — — ich sagte es schon, unser<lb/> Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: »Das<lb/> Reich Gottes <hi rendition="#g">kommt nicht mit äusserlichen Geberden.</hi><lb/> Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet,<lb/><hi rendition="#g">das Reich Gottes ist inwendig in euch.</hi>« Dies ist, was<lb/> Christus selber »das Geheimnis« nennt; es lässt sich nicht in Worte<lb/> fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht<lb/> der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen<lb/> Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [199/0222]
Die Erscheinung Christi.
spendet nicht der gewöhnliche Tod, sondern nur derjenige Tod, auf
den keine Neugeburt folgt; und dieser erlösende Tod kann einzig
dadurch gewonnen werden, dass der Mensch schon im Leben, also
aus freien Stücken, stirbt; d. h., dass er alles, was ihn an das Leben
fesselt, alle Liebe, alles Hoffen, alles Wünschen, alles Haben ab-
schneidet und vernichtet, kurz, wie wir heute mit Schopenhauer
sagen würden, dass er den Willen zum Leben verneint. Lebt der
Mensch auf diese Weise, macht er sich selbst zur wandelnden Leiche
ehe er stirbt, dann erntet der Schnitter Tod keinen Samen zur Neu-
geburt. Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus. Man
kann Buddha’s Leben als den gelebten Selbstmord bezeichnen.
Es ist der Selbstmord in seiner denkbar höchsten Potenz: denn
Buddha lebt einzig und allein, um zu sterben, um endgültig und
ohne Widerruf tot zu sein, um einzugehen in das Nirwana, das Nichts.
Welchen grösseren Gegensatz kann es zu dieser Erscheinung
geben, als diejenige Christi, dessen Tod den Eingang ins ewige Leben
bedeutet? In der ganzen Welt erblickt Christus göttliche Vorsehung;
kein Sperling fällt zur Erde, kein Haar auf eines Menschen Haupt
kann gekrümmt werden, ohne dass der himmlische Vater es erlaubt.
Und weit entfernt, dass dieses irdische Dasein, gelebt durch den
Willen und unter dem Auge Gottes, ihm verhasst sei, preist es Christus
als den Eingang in die Ewigkeit, als die enge Pforte, durch die wir
ins Himmelreich eintreten. Und dieses Himmelreich, was ist es? ein
Nirwana? ein erträumtes Paradies? eine zu erkaufende zukünftige Be-
lohnung für hienieden vollbrachte Werke? Die Antwort giebt Christus
in einem Wort, welches uns unzweifelhaft authentisch aufbewahrt
worden ist, denn es war noch niemals gesprochen worden, und es
wurde offenbar von keinem seiner Jünger verstanden, vielweniger er-
funden, ja, es eilte der langsamen Entfaltung der menschlichen Er-
kenntnis mit so mächtigem Flügelschlag voraus, dass es bis heute nur
Wenigen seinen Sinn enthüllt — — — ich sagte es schon, unser
Christentum geht noch auf Kinderfüssen; Christus antwortet: »Das
Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden.
Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier oder da ist es. Denn sehet,
das Reich Gottes ist inwendig in euch.« Dies ist, was
Christus selber »das Geheimnis« nennt; es lässt sich nicht in Worte
fassen, es lässt sich nicht begrifflich darthun; und immer wieder sucht
der Heiland diese seine grosse Heilsbotschaft durch Gleichnisse seinen
Zuhörern nahezulegen: das Himmelreich ist wie ein Senfkorn auf
Christus.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |