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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
Gott schauen; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn
ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe
finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist
leicht". -- -- -- So hatte noch Keiner gesprochen; so sprach seitdem
Keiner mehr. Diese Reden Christi haben aber, wie man sieht, nie
den Charakter einer Lehre, sondern, so wie der Ton einer Stimme
das, was wir aus den Gesichtszügen und den Handlungen eines
Menschen über ihn wissen, durch ein geheimnisvoll Unsagbares, durch
das Persönlichste seiner Persönlichkeit ergänzt, so meinen wir in
diesen Reden Christi seine Stimme zu hören; was er genau
sagte, wissen wir nicht, doch ein unmissverständlicher, unvergesslicher
Ton schlägt an unser Ohr und dringt von dort aus in das Herz.
Und da schlagen wir die Augen auf und erblicken diese Gestalt,
dieses Leben! Über die Jahrtausende hinweg vernehmen wir die Worte:
"Lernet von mir!" und verstehen jetzt, was das heissen soll: sein
wie Christus war, leben wie Christus lebte, sterben wie Christus starb,
das ist das Himmelreich, das ist das ewige Leben.

In unserem Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Ver-
neinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie viel-
fach auf Christus angewandt; sie passen aber nur für Buddha und
für gewisse Erscheinungen der christlichen Kirchen und ihrer Dogmen,
Christi Leben ist ihre Verleugnung. Wenn das Reich Gottes in uns
wohnt, wenn der Himmel wie ein verborgener Schatz in diesem Leben
einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus?1) Wie kann der Mensch
ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust
das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade
möglich war (siehe Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
Bd. 2, Kap. 46), wenn sie den Himmel einschliesst? Für Christus waren
das alles Trugschlüsse; wehe rief er über die Gelehrten: "die ihr das
Himmelreich zuschliesst vor den Menschen; ihr kommt nicht hinein, und
die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen", und er pries Gott, dass er
"den Unmündigen geoffenbart, was er den Weisen und Klugen verborgen
habe". Christus, wie einer der grössten Männer unseres Jahrhunderts
gesagt hat, "war nicht weise, sondern göttlich";2) das ist ein ge-

1) Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich hier den so vieler Auffassungen
fähigen Begriff des Pessimismus in dem populären, oberflächlichen Sinne nehme, welcher
nicht eine philosophische Erkenntnis, sondern eine moralische Stimmung bezeichnet.
2) Auch Diderot, dem man Rechtgläubigkeit nicht imputieren kann, sagt
in der Encyclopedie: "Christ ne fut point un philosophe, ce fut un Dieu."

Die Erscheinung Christi.
Gott schauen; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn
ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe
finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist
leicht«. — — — So hatte noch Keiner gesprochen; so sprach seitdem
Keiner mehr. Diese Reden Christi haben aber, wie man sieht, nie
den Charakter einer Lehre, sondern, so wie der Ton einer Stimme
das, was wir aus den Gesichtszügen und den Handlungen eines
Menschen über ihn wissen, durch ein geheimnisvoll Unsagbares, durch
das Persönlichste seiner Persönlichkeit ergänzt, so meinen wir in
diesen Reden Christi seine Stimme zu hören; was er genau
sagte, wissen wir nicht, doch ein unmissverständlicher, unvergesslicher
Ton schlägt an unser Ohr und dringt von dort aus in das Herz.
Und da schlagen wir die Augen auf und erblicken diese Gestalt,
dieses Leben! Über die Jahrtausende hinweg vernehmen wir die Worte:
»Lernet von mir!« und verstehen jetzt, was das heissen soll: sein
wie Christus war, leben wie Christus lebte, sterben wie Christus starb,
das ist das Himmelreich, das ist das ewige Leben.

In unserem Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Ver-
neinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie viel-
fach auf Christus angewandt; sie passen aber nur für Buddha und
für gewisse Erscheinungen der christlichen Kirchen und ihrer Dogmen,
Christi Leben ist ihre Verleugnung. Wenn das Reich Gottes in uns
wohnt, wenn der Himmel wie ein verborgener Schatz in diesem Leben
einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus?1) Wie kann der Mensch
ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust
das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade
möglich war (siehe Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,
Bd. 2, Kap. 46), wenn sie den Himmel einschliesst? Für Christus waren
das alles Trugschlüsse; wehe rief er über die Gelehrten: »die ihr das
Himmelreich zuschliesst vor den Menschen; ihr kommt nicht hinein, und
die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen«, und er pries Gott, dass er
»den Unmündigen geoffenbart, was er den Weisen und Klugen verborgen
habe«. Christus, wie einer der grössten Männer unseres Jahrhunderts
gesagt hat, »war nicht weise, sondern göttlich«;2) das ist ein ge-

1) Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich hier den so vieler Auffassungen
fähigen Begriff des Pessimismus in dem populären, oberflächlichen Sinne nehme, welcher
nicht eine philosophische Erkenntnis, sondern eine moralische Stimmung bezeichnet.
2) Auch Diderot, dem man Rechtgläubigkeit nicht imputieren kann, sagt
in der Encyclopédie: »Christ ne fut point un philosophe, ce fut un Dieu.«
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[201/0224] Die Erscheinung Christi. Gott schauen; nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht«. — — — So hatte noch Keiner gesprochen; so sprach seitdem Keiner mehr. Diese Reden Christi haben aber, wie man sieht, nie den Charakter einer Lehre, sondern, so wie der Ton einer Stimme das, was wir aus den Gesichtszügen und den Handlungen eines Menschen über ihn wissen, durch ein geheimnisvoll Unsagbares, durch das Persönlichste seiner Persönlichkeit ergänzt, so meinen wir in diesen Reden Christi seine Stimme zu hören; was er genau sagte, wissen wir nicht, doch ein unmissverständlicher, unvergesslicher Ton schlägt an unser Ohr und dringt von dort aus in das Herz. Und da schlagen wir die Augen auf und erblicken diese Gestalt, dieses Leben! Über die Jahrtausende hinweg vernehmen wir die Worte: »Lernet von mir!« und verstehen jetzt, was das heissen soll: sein wie Christus war, leben wie Christus lebte, sterben wie Christus starb, das ist das Himmelreich, das ist das ewige Leben. In unserem Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Ver- neinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie viel- fach auf Christus angewandt; sie passen aber nur für Buddha und für gewisse Erscheinungen der christlichen Kirchen und ihrer Dogmen, Christi Leben ist ihre Verleugnung. Wenn das Reich Gottes in uns wohnt, wenn der Himmel wie ein verborgener Schatz in diesem Leben einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus? 1) Wie kann der Mensch ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade möglich war (siehe Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 46), wenn sie den Himmel einschliesst? Für Christus waren das alles Trugschlüsse; wehe rief er über die Gelehrten: »die ihr das Himmelreich zuschliesst vor den Menschen; ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen«, und er pries Gott, dass er »den Unmündigen geoffenbart, was er den Weisen und Klugen verborgen habe«. Christus, wie einer der grössten Männer unseres Jahrhunderts gesagt hat, »war nicht weise, sondern göttlich«; 2) das ist ein ge- 1) Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich hier den so vieler Auffassungen fähigen Begriff des Pessimismus in dem populären, oberflächlichen Sinne nehme, welcher nicht eine philosophische Erkenntnis, sondern eine moralische Stimmung bezeichnet. 2) Auch Diderot, dem man Rechtgläubigkeit nicht imputieren kann, sagt in der Encyclopédie: »Christ ne fut point un philosophe, ce fut un Dieu.«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/224>, abgerufen am 22.05.2024.