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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Geometrie, war den Indern zu handgreiflich, und sie schwelgten
dafür in einer Arithmetik, welche über alle Vorstellbarkeit hinausgeht;
wer hier im Ernste sich über seinen Lebenszweck befragte, wem es
von Natur gegeben war, einem höchsten Ziele nachzustreben, der
fand auf der einen Seite ein religiöses System, in welchem die Symbolik
zu so wahnsinnigen Dimensionen angewachsen war, dass man etwa
30 Jahre brauchte, um sich darin zurecht zu finden, auf der andern,
eine Philosophie, die zu so schwindligen Höhen emporführte, dass
wer die letzten Sprossen dieser Himmelsleiter erklettern wollte, sich
auf ewig aus der Welt in die Tiefen des lautlosen Urwaldes zurück-
ziehen musste. Hier hatten offenbar das Auge und das Herz keine
Rechte mehr. Wie ein sengender Wüstenwind hatte der Geist der
Abstraktion über alle andern Anlagen der reichen Menschennatur,
alles verdorrend, hinweggeweht. Sinne gab es freilich noch, tropisch
heisse Gelüste; auf der andern Seite aber die Verleugnung der ganzen
Sinnenwelt; dazwischen nichts, kein Ausgleich, nur Krieg, -- Krieg
zwischen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Natur, zwischen
Denken und Sein. Und so musste Buddha hassen, was er liebte:
Kinder, Eltern, Weib, alles Schöne und Freudenvolle, denn das waren
lauter Schleier vor der Erkenntnis, Schlingen, die ihn an ein erträumtes,
lügenhaftes Mayaleben ketteten. Und was sollte ihm die ganze Brah-
manische Weisheit? Opferzeremonieen, die kein Mensch verstand und
welche die Priester selber als lediglich symbolisch, für den Wissenden
nichtig erklärten; dazu eine "Erlösung durch Erkenntnis", die
kaum Einem in hunderttausend zugänglich war? So warf denn
Buddha nicht allein sein Reich und sein Wissen von sich, er riss
sich alles aus dem Herzen, was ihn noch als Menschen unter
Menschen fesselte, alle Liebe, alles Hoffen, zugleich zertrümmerte er
den Glauben seiner Väter, entgötterte das Weltgebäude und verwarf
als müssiges Wahngebilde selbst jenen höchsten Gedanken indischer
Metaphysik, den an einen all-einigen Gott, unbeschreibbar, unvor-
stellbar, raumlos, zeitlos, dem Denken folglich unzugänglich, doch
von ihm geahnt. Nichts giebt es -- dies war Buddha's Erlebnis und
folglich auch seine Lehre -- nichts giebt es im Leben ausser "dem
Leiden"; das einzig Erstrebenswerte ist "die Erlösung vom
Leiden";
diese Erlösung ist der Tod, das Eingehen in das Nichts.
Nun glaubte aber jeder Inder wie an eine offenkundige, nicht erst
in Frage zu ziehende Sache, an die Seelenwanderung, d. h. an die
unaufhörliche Neugeburt derselben Individuen. Die "Erlösung" also

Das Erbe der alten Welt.
Geometrie, war den Indern zu handgreiflich, und sie schwelgten
dafür in einer Arithmetik, welche über alle Vorstellbarkeit hinausgeht;
wer hier im Ernste sich über seinen Lebenszweck befragte, wem es
von Natur gegeben war, einem höchsten Ziele nachzustreben, der
fand auf der einen Seite ein religiöses System, in welchem die Symbolik
zu so wahnsinnigen Dimensionen angewachsen war, dass man etwa
30 Jahre brauchte, um sich darin zurecht zu finden, auf der andern,
eine Philosophie, die zu so schwindligen Höhen emporführte, dass
wer die letzten Sprossen dieser Himmelsleiter erklettern wollte, sich
auf ewig aus der Welt in die Tiefen des lautlosen Urwaldes zurück-
ziehen musste. Hier hatten offenbar das Auge und das Herz keine
Rechte mehr. Wie ein sengender Wüstenwind hatte der Geist der
Abstraktion über alle andern Anlagen der reichen Menschennatur,
alles verdorrend, hinweggeweht. Sinne gab es freilich noch, tropisch
heisse Gelüste; auf der andern Seite aber die Verleugnung der ganzen
Sinnenwelt; dazwischen nichts, kein Ausgleich, nur Krieg, — Krieg
zwischen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Natur, zwischen
Denken und Sein. Und so musste Buddha hassen, was er liebte:
Kinder, Eltern, Weib, alles Schöne und Freudenvolle, denn das waren
lauter Schleier vor der Erkenntnis, Schlingen, die ihn an ein erträumtes,
lügenhaftes Mayaleben ketteten. Und was sollte ihm die ganze Brah-
manische Weisheit? Opferzeremonieen, die kein Mensch verstand und
welche die Priester selber als lediglich symbolisch, für den Wissenden
nichtig erklärten; dazu eine »Erlösung durch Erkenntnis«, die
kaum Einem in hunderttausend zugänglich war? So warf denn
Buddha nicht allein sein Reich und sein Wissen von sich, er riss
sich alles aus dem Herzen, was ihn noch als Menschen unter
Menschen fesselte, alle Liebe, alles Hoffen, zugleich zertrümmerte er
den Glauben seiner Väter, entgötterte das Weltgebäude und verwarf
als müssiges Wahngebilde selbst jenen höchsten Gedanken indischer
Metaphysik, den an einen all-einigen Gott, unbeschreibbar, unvor-
stellbar, raumlos, zeitlos, dem Denken folglich unzugänglich, doch
von ihm geahnt. Nichts giebt es — dies war Buddha’s Erlebnis und
folglich auch seine Lehre — nichts giebt es im Leben ausser »dem
Leiden«; das einzig Erstrebenswerte ist »die Erlösung vom
Leiden«;
diese Erlösung ist der Tod, das Eingehen in das Nichts.
Nun glaubte aber jeder Inder wie an eine offenkundige, nicht erst
in Frage zu ziehende Sache, an die Seelenwanderung, d. h. an die
unaufhörliche Neugeburt derselben Individuen. Die »Erlösung« also

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[198/0221] Das Erbe der alten Welt. Geometrie, war den Indern zu handgreiflich, und sie schwelgten dafür in einer Arithmetik, welche über alle Vorstellbarkeit hinausgeht; wer hier im Ernste sich über seinen Lebenszweck befragte, wem es von Natur gegeben war, einem höchsten Ziele nachzustreben, der fand auf der einen Seite ein religiöses System, in welchem die Symbolik zu so wahnsinnigen Dimensionen angewachsen war, dass man etwa 30 Jahre brauchte, um sich darin zurecht zu finden, auf der andern, eine Philosophie, die zu so schwindligen Höhen emporführte, dass wer die letzten Sprossen dieser Himmelsleiter erklettern wollte, sich auf ewig aus der Welt in die Tiefen des lautlosen Urwaldes zurück- ziehen musste. Hier hatten offenbar das Auge und das Herz keine Rechte mehr. Wie ein sengender Wüstenwind hatte der Geist der Abstraktion über alle andern Anlagen der reichen Menschennatur, alles verdorrend, hinweggeweht. Sinne gab es freilich noch, tropisch heisse Gelüste; auf der andern Seite aber die Verleugnung der ganzen Sinnenwelt; dazwischen nichts, kein Ausgleich, nur Krieg, — Krieg zwischen menschlicher Erkenntnis und menschlicher Natur, zwischen Denken und Sein. Und so musste Buddha hassen, was er liebte: Kinder, Eltern, Weib, alles Schöne und Freudenvolle, denn das waren lauter Schleier vor der Erkenntnis, Schlingen, die ihn an ein erträumtes, lügenhaftes Mayaleben ketteten. Und was sollte ihm die ganze Brah- manische Weisheit? Opferzeremonieen, die kein Mensch verstand und welche die Priester selber als lediglich symbolisch, für den Wissenden nichtig erklärten; dazu eine »Erlösung durch Erkenntnis«, die kaum Einem in hunderttausend zugänglich war? So warf denn Buddha nicht allein sein Reich und sein Wissen von sich, er riss sich alles aus dem Herzen, was ihn noch als Menschen unter Menschen fesselte, alle Liebe, alles Hoffen, zugleich zertrümmerte er den Glauben seiner Väter, entgötterte das Weltgebäude und verwarf als müssiges Wahngebilde selbst jenen höchsten Gedanken indischer Metaphysik, den an einen all-einigen Gott, unbeschreibbar, unvor- stellbar, raumlos, zeitlos, dem Denken folglich unzugänglich, doch von ihm geahnt. Nichts giebt es — dies war Buddha’s Erlebnis und folglich auch seine Lehre — nichts giebt es im Leben ausser »dem Leiden«; das einzig Erstrebenswerte ist »die Erlösung vom Leiden«; diese Erlösung ist der Tod, das Eingehen in das Nichts. Nun glaubte aber jeder Inder wie an eine offenkundige, nicht erst in Frage zu ziehende Sache, an die Seelenwanderung, d. h. an die unaufhörliche Neugeburt derselben Individuen. Die »Erlösung« also

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/221>, abgerufen am 24.11.2024.