Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht.Man weiss, dass heute die meisten Zoologen die Unsterblichkeit -- die physische Unsterblichkeit -- des Keimplasmas lehren; die Kluft zwischen organischer und unorganischer, das heisst zwischen belebter und unbelebter Natur, die man am Anfang unseres Jahrhunderts über- brückt zu haben wähnte, wird täglich tiefer;1) hier ist zu einer Dis- kussion darüber nicht der Platz; ich führe diese Thatsache nur analogisch an, um mich zu rechtfertigen, wenn ich auch auf geistigem Gebiete zwischen organisierten und unorganisierten Vorstellungen streng unterscheide und wenn ich meine Überzeugung ausspreche, dass etwas, was des Dichters Griffel zu einer lebendigen Gestalt geformt hat, noch niemals gestorben ist. Kataklysmen können derartige Gebilde verschütten, sie entsteigen aber nach Jahrhunderten ewig jung dem vermeintlichen Grabe; gar häufig kommt es auch vor, dass die Kinder des Gedankens, wie ihre Geschwister, die marmornen Standbilder, verstümmelt, zerstückelt oder ganz und gar zertrümmert werden; das ist aber eine mechanische Vernichtung, nicht Tod. Und so war denn die mehr als tausend Jahre alte Ideenlehre Plato's ein lebendiger Bestandteil des Geisteslebens unseres Jahrhunderts, ein "Ursprung" gar vieler Gedanken; fast jede philosophische Spekulation von Be- deutung hat wohl an einer oder der andern Seite bei ihr angeknüpft! Inzwischen beherrschte Demokrit's Geist die Naturwissenschaft: mag seine geniale Erdichtung der Atome, um dem heutigen Wissens- material angepasst zu werden, noch so tiefe Umgestaltungen haben erfahren müssen, er bleibt doch der Erfinder, der Künstler, er ist es, der (um mit Shakespeare zu reden) das Unerforschliche durch die Kraft seiner Phantasie hinausprojiziert und diese Vorstellung dann gestaltet hat. Beispiele der Weise, in welcher hellenische Gestaltungskraft den 1) Siehe z. B. das massgebende Werk des amerikanischen Zoologen E. B.
Wilson (Professor in Columbia): The cell in Development and Inheritance, 1896, wo wir lesen: "Die Erforschung der Zellenthätigkeit hat im ganzen die gewaltige Kluft, welche selbst die allerniedrigsten Formen des Lebens von den Erscheinungen der unorganischen Welt trennt, eher weiter aufgerissen als verengert." Die unbe- dingte Richtigkeit dieser Aussage vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus bezeugte mir vor kurzem Herr Hofrat Wiesner. Das Erbe der alten Welt. muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht.Man weiss, dass heute die meisten Zoologen die Unsterblichkeit — die physische Unsterblichkeit — des Keimplasmas lehren; die Kluft zwischen organischer und unorganischer, das heisst zwischen belebter und unbelebter Natur, die man am Anfang unseres Jahrhunderts über- brückt zu haben wähnte, wird täglich tiefer;1) hier ist zu einer Dis- kussion darüber nicht der Platz; ich führe diese Thatsache nur analogisch an, um mich zu rechtfertigen, wenn ich auch auf geistigem Gebiete zwischen organisierten und unorganisierten Vorstellungen streng unterscheide und wenn ich meine Überzeugung ausspreche, dass etwas, was des Dichters Griffel zu einer lebendigen Gestalt geformt hat, noch niemals gestorben ist. Kataklysmen können derartige Gebilde verschütten, sie entsteigen aber nach Jahrhunderten ewig jung dem vermeintlichen Grabe; gar häufig kommt es auch vor, dass die Kinder des Gedankens, wie ihre Geschwister, die marmornen Standbilder, verstümmelt, zerstückelt oder ganz und gar zertrümmert werden; das ist aber eine mechanische Vernichtung, nicht Tod. Und so war denn die mehr als tausend Jahre alte Ideenlehre Plato’s ein lebendiger Bestandteil des Geisteslebens unseres Jahrhunderts, ein »Ursprung« gar vieler Gedanken; fast jede philosophische Spekulation von Be- deutung hat wohl an einer oder der andern Seite bei ihr angeknüpft! Inzwischen beherrschte Demokrit’s Geist die Naturwissenschaft: mag seine geniale Erdichtung der Atome, um dem heutigen Wissens- material angepasst zu werden, noch so tiefe Umgestaltungen haben erfahren müssen, er bleibt doch der Erfinder, der Künstler, er ist es, der (um mit Shakespeare zu reden) das Unerforschliche durch die Kraft seiner Phantasie hinausprojiziert und diese Vorstellung dann gestaltet hat. Beispiele der Weise, in welcher hellenische Gestaltungskraft den 1) Siehe z. B. das massgebende Werk des amerikanischen Zoologen E. B.
Wilson (Professor in Columbia): The cell in Development and Inheritance, 1896, wo wir lesen: »Die Erforschung der Zellenthätigkeit hat im ganzen die gewaltige Kluft, welche selbst die allerniedrigsten Formen des Lebens von den Erscheinungen der unorganischen Welt trennt, eher weiter aufgerissen als verengert.« Die unbe- dingte Richtigkeit dieser Aussage vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus bezeugte mir vor kurzem Herr Hofrat Wiesner. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0101" n="78"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht.<lb/> Man weiss, dass heute die meisten Zoologen die Unsterblichkeit —<lb/> die physische Unsterblichkeit — des Keimplasmas lehren; die Kluft<lb/> zwischen organischer und unorganischer, das heisst zwischen belebter<lb/> und unbelebter Natur, die man am Anfang unseres Jahrhunderts über-<lb/> brückt zu haben wähnte, wird täglich tiefer;<note place="foot" n="1)">Siehe z. B. das massgebende Werk des amerikanischen Zoologen E. B.<lb/> Wilson (Professor in Columbia): <hi rendition="#i">The cell in Development and Inheritance,</hi> 1896,<lb/> wo wir lesen: »Die Erforschung der Zellenthätigkeit hat im ganzen die gewaltige<lb/> Kluft, welche selbst die allerniedrigsten Formen des Lebens von den Erscheinungen<lb/> der unorganischen Welt trennt, eher weiter aufgerissen als verengert.« Die unbe-<lb/> dingte Richtigkeit dieser Aussage vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus<lb/> bezeugte mir vor kurzem Herr Hofrat <hi rendition="#g">Wiesner.</hi></note> hier ist zu einer Dis-<lb/> kussion darüber nicht der Platz; ich führe diese Thatsache nur<lb/> analogisch an, um mich zu rechtfertigen, wenn ich auch auf geistigem<lb/> Gebiete zwischen organisierten und unorganisierten Vorstellungen streng<lb/> unterscheide und wenn ich meine Überzeugung ausspreche, dass etwas,<lb/> was des Dichters Griffel zu einer lebendigen Gestalt geformt hat,<lb/> noch niemals gestorben ist. Kataklysmen können derartige Gebilde<lb/> verschütten, sie entsteigen aber nach Jahrhunderten ewig jung dem<lb/> vermeintlichen Grabe; gar häufig kommt es auch vor, dass die Kinder<lb/> des Gedankens, wie ihre Geschwister, die marmornen Standbilder,<lb/> verstümmelt, zerstückelt oder ganz und gar zertrümmert werden; das<lb/> ist aber eine mechanische Vernichtung, nicht Tod. Und so war<lb/> denn die mehr als tausend Jahre alte Ideenlehre Plato’s ein lebendiger<lb/> Bestandteil des Geisteslebens unseres Jahrhunderts, ein »Ursprung«<lb/> gar vieler Gedanken; fast jede philosophische Spekulation von Be-<lb/> deutung hat wohl an einer oder der andern Seite bei ihr angeknüpft!<lb/> Inzwischen beherrschte Demokrit’s Geist die Naturwissenschaft: mag<lb/> seine geniale Erdichtung der Atome, um dem heutigen Wissens-<lb/> material angepasst zu werden, noch so tiefe Umgestaltungen haben<lb/> erfahren müssen, er bleibt doch der Erfinder, der Künstler, er ist es,<lb/> der (um mit Shakespeare zu reden) das Unerforschliche durch<lb/> die Kraft seiner Phantasie hinausprojiziert und diese Vorstellung dann<lb/> gestaltet hat.</p><lb/> <note place="left">Plato.</note> <p>Beispiele der Weise, in welcher hellenische Gestaltungskraft den<lb/> Gedanken Leben und Wirksamkeit verliehen, sind leicht zu nennen.<lb/> Man nehme Plato’s Philosophie. Sein Material ist kein neues; er setzt<lb/> sich nicht hin, wie etwa Spinoza, um aus den Tiefen des eigenen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0101]
Das Erbe der alten Welt.
muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht.
Man weiss, dass heute die meisten Zoologen die Unsterblichkeit —
die physische Unsterblichkeit — des Keimplasmas lehren; die Kluft
zwischen organischer und unorganischer, das heisst zwischen belebter
und unbelebter Natur, die man am Anfang unseres Jahrhunderts über-
brückt zu haben wähnte, wird täglich tiefer; 1) hier ist zu einer Dis-
kussion darüber nicht der Platz; ich führe diese Thatsache nur
analogisch an, um mich zu rechtfertigen, wenn ich auch auf geistigem
Gebiete zwischen organisierten und unorganisierten Vorstellungen streng
unterscheide und wenn ich meine Überzeugung ausspreche, dass etwas,
was des Dichters Griffel zu einer lebendigen Gestalt geformt hat,
noch niemals gestorben ist. Kataklysmen können derartige Gebilde
verschütten, sie entsteigen aber nach Jahrhunderten ewig jung dem
vermeintlichen Grabe; gar häufig kommt es auch vor, dass die Kinder
des Gedankens, wie ihre Geschwister, die marmornen Standbilder,
verstümmelt, zerstückelt oder ganz und gar zertrümmert werden; das
ist aber eine mechanische Vernichtung, nicht Tod. Und so war
denn die mehr als tausend Jahre alte Ideenlehre Plato’s ein lebendiger
Bestandteil des Geisteslebens unseres Jahrhunderts, ein »Ursprung«
gar vieler Gedanken; fast jede philosophische Spekulation von Be-
deutung hat wohl an einer oder der andern Seite bei ihr angeknüpft!
Inzwischen beherrschte Demokrit’s Geist die Naturwissenschaft: mag
seine geniale Erdichtung der Atome, um dem heutigen Wissens-
material angepasst zu werden, noch so tiefe Umgestaltungen haben
erfahren müssen, er bleibt doch der Erfinder, der Künstler, er ist es,
der (um mit Shakespeare zu reden) das Unerforschliche durch
die Kraft seiner Phantasie hinausprojiziert und diese Vorstellung dann
gestaltet hat.
Beispiele der Weise, in welcher hellenische Gestaltungskraft den
Gedanken Leben und Wirksamkeit verliehen, sind leicht zu nennen.
Man nehme Plato’s Philosophie. Sein Material ist kein neues; er setzt
sich nicht hin, wie etwa Spinoza, um aus den Tiefen des eigenen
1) Siehe z. B. das massgebende Werk des amerikanischen Zoologen E. B.
Wilson (Professor in Columbia): The cell in Development and Inheritance, 1896,
wo wir lesen: »Die Erforschung der Zellenthätigkeit hat im ganzen die gewaltige
Kluft, welche selbst die allerniedrigsten Formen des Lebens von den Erscheinungen
der unorganischen Welt trennt, eher weiter aufgerissen als verengert.« Die unbe-
dingte Richtigkeit dieser Aussage vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus
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