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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
nämlich darauf an, dass die Vorstellung, durch welche der Mensch
die innere Welt seines Ich's oder die äussere Welt zu bewältigen, sie
seinem Wesen zu assimilieren sucht, fest gezeichnet und durch und
durch klar gestaltet werde. Blicken wir auf eine etwa dreitausend-
jährige Geschichte zurück, so sehen wir, dass der menschliche Geist
sich durch die Kenntnis neuer Thatsachen allerdings erweitert hat,
bereichert dagegen einzig durch neue Ideen, d. h. durch neue Vor-
stellungen. Dies ist jene "schöpferische Kraft", von der Goethe in
den Wanderjahren redet, welche "die Natur verherrlicht" und ohne
welche, wie er meint, "das Äussere kalt und leblos bliebe".1) Dauer-
haftes aber schafft sie nur, wenn ihre Gebilde schön und durchsichtig
sind, also künstlerisch.

"As imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poet's pen
Turns them to shapes."
(Shakespeare.)

Auf deutsch: während die Phantasie die Vorstellung unerforsch-
licher Dinge hinausprojiziert, bildet sie des Dichters Griffel zu Gestalten
um. Jene Vorstellungen allein, welche zu Gestalten umgebildet
werden, machen einen dauernden Besitz des menschlichen Bewusst-
seins aus. Der Vorrat an Thatsachen ist ein sehr wechselnder, wo-
durch auch der Schwerpunkt des Thatsächlichen (wenn ich mich so
ausdrücken darf) einer beständigen Verschiebung unterliegt; ausserdem
ist etwa die Hälfte unseres Wissens, oder noch mehr, ein Provisorium:
was gestern als wahr galt, ist heute falsch, und an diesem Ver-
hältnis wird auch die Zukunft schwerlich etwas ändern, da die Er-
weiterung des Wissensmaterials mit der Erweiterung des Wissens
Schritt hält.2) Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die
Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter. Ich

1) Man sieht, nach Goethe bedarf es eines schöpferischen Aktes des
Menschengeistes, damit das Leben selber "belebt" werde!
2) Ein allgemeines Lehrbuch der Botanik oder der Zoologie aus dem
Jahre 1875 ist z. B. am Schlusse unseres Jahrhunderts nicht mehr zu gebrauchen
und zwar nicht allein und nicht hauptsächlich wegen des neu hinzugekommenen
Materials, sondern weil thatsächliche Verhältnisse anders aufgefasst und exakte
Beobachtungen durch noch exaktere umgestossen werden. Man verfolge als
Beispiel das Imbibitionsdogma mit seinen endlosen Beobachtungsreihen, von seinem
ersten Auftreten im Jahre 1838, bis zu seiner höchsten Blüte, etwa 1868; dann
beginnt bald die Contremine, und im Jahre 1898 erfährt der wissbegierige Schüler
gar nichts mehr davon.

Hellenische Kunst und Philosophie.
nämlich darauf an, dass die Vorstellung, durch welche der Mensch
die innere Welt seines Ich’s oder die äussere Welt zu bewältigen, sie
seinem Wesen zu assimilieren sucht, fest gezeichnet und durch und
durch klar gestaltet werde. Blicken wir auf eine etwa dreitausend-
jährige Geschichte zurück, so sehen wir, dass der menschliche Geist
sich durch die Kenntnis neuer Thatsachen allerdings erweitert hat,
bereichert dagegen einzig durch neue Ideen, d. h. durch neue Vor-
stellungen. Dies ist jene »schöpferische Kraft«, von der Goethe in
den Wanderjahren redet, welche »die Natur verherrlicht« und ohne
welche, wie er meint, »das Äussere kalt und leblos bliebe«.1) Dauer-
haftes aber schafft sie nur, wenn ihre Gebilde schön und durchsichtig
sind, also künstlerisch.

„As imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poet’s pen
Turns them to shapes.‟
(Shakespeare.)

Auf deutsch: während die Phantasie die Vorstellung unerforsch-
licher Dinge hinausprojiziert, bildet sie des Dichters Griffel zu Gestalten
um. Jene Vorstellungen allein, welche zu Gestalten umgebildet
werden, machen einen dauernden Besitz des menschlichen Bewusst-
seins aus. Der Vorrat an Thatsachen ist ein sehr wechselnder, wo-
durch auch der Schwerpunkt des Thatsächlichen (wenn ich mich so
ausdrücken darf) einer beständigen Verschiebung unterliegt; ausserdem
ist etwa die Hälfte unseres Wissens, oder noch mehr, ein Provisorium:
was gestern als wahr galt, ist heute falsch, und an diesem Ver-
hältnis wird auch die Zukunft schwerlich etwas ändern, da die Er-
weiterung des Wissensmaterials mit der Erweiterung des Wissens
Schritt hält.2) Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die
Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter. Ich

1) Man sieht, nach Goethe bedarf es eines schöpferischen Aktes des
Menschengeistes, damit das Leben selber »belebt« werde!
2) Ein allgemeines Lehrbuch der Botanik oder der Zoologie aus dem
Jahre 1875 ist z. B. am Schlusse unseres Jahrhunderts nicht mehr zu gebrauchen
und zwar nicht allein und nicht hauptsächlich wegen des neu hinzugekommenen
Materials, sondern weil thatsächliche Verhältnisse anders aufgefasst und exakte
Beobachtungen durch noch exaktere umgestossen werden. Man verfolge als
Beispiel das Imbibitionsdogma mit seinen endlosen Beobachtungsreihen, von seinem
ersten Auftreten im Jahre 1838, bis zu seiner höchsten Blüte, etwa 1868; dann
beginnt bald die Contremine, und im Jahre 1898 erfährt der wissbegierige Schüler
gar nichts mehr davon.
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[77/0100] Hellenische Kunst und Philosophie. nämlich darauf an, dass die Vorstellung, durch welche der Mensch die innere Welt seines Ich’s oder die äussere Welt zu bewältigen, sie seinem Wesen zu assimilieren sucht, fest gezeichnet und durch und durch klar gestaltet werde. Blicken wir auf eine etwa dreitausend- jährige Geschichte zurück, so sehen wir, dass der menschliche Geist sich durch die Kenntnis neuer Thatsachen allerdings erweitert hat, bereichert dagegen einzig durch neue Ideen, d. h. durch neue Vor- stellungen. Dies ist jene »schöpferische Kraft«, von der Goethe in den Wanderjahren redet, welche »die Natur verherrlicht« und ohne welche, wie er meint, »das Äussere kalt und leblos bliebe«. 1) Dauer- haftes aber schafft sie nur, wenn ihre Gebilde schön und durchsichtig sind, also künstlerisch. „As imagination bodies forth The forms of things unknown, the poet’s pen Turns them to shapes.‟ (Shakespeare.) Auf deutsch: während die Phantasie die Vorstellung unerforsch- licher Dinge hinausprojiziert, bildet sie des Dichters Griffel zu Gestalten um. Jene Vorstellungen allein, welche zu Gestalten umgebildet werden, machen einen dauernden Besitz des menschlichen Bewusst- seins aus. Der Vorrat an Thatsachen ist ein sehr wechselnder, wo- durch auch der Schwerpunkt des Thatsächlichen (wenn ich mich so ausdrücken darf) einer beständigen Verschiebung unterliegt; ausserdem ist etwa die Hälfte unseres Wissens, oder noch mehr, ein Provisorium: was gestern als wahr galt, ist heute falsch, und an diesem Ver- hältnis wird auch die Zukunft schwerlich etwas ändern, da die Er- weiterung des Wissensmaterials mit der Erweiterung des Wissens Schritt hält. 2) Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter. Ich 1) Man sieht, nach Goethe bedarf es eines schöpferischen Aktes des Menschengeistes, damit das Leben selber »belebt« werde! 2) Ein allgemeines Lehrbuch der Botanik oder der Zoologie aus dem Jahre 1875 ist z. B. am Schlusse unseres Jahrhunderts nicht mehr zu gebrauchen und zwar nicht allein und nicht hauptsächlich wegen des neu hinzugekommenen Materials, sondern weil thatsächliche Verhältnisse anders aufgefasst und exakte Beobachtungen durch noch exaktere umgestossen werden. Man verfolge als Beispiel das Imbibitionsdogma mit seinen endlosen Beobachtungsreihen, von seinem ersten Auftreten im Jahre 1838, bis zu seiner höchsten Blüte, etwa 1868; dann beginnt bald die Contremine, und im Jahre 1898 erfährt der wissbegierige Schüler gar nichts mehr davon.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/100>, abgerufen am 24.11.2024.