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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Bewusstseins ein logisches Weltsystem herauszukalkulieren; ebenso-
wenig greift er mit der grossartigen Unbefangenheit (ingenuitas) des
Descartes der Natur in die Eingeweide, in dem Wahn, dort als Welt-
erklärung ein Räderwerk zu entdecken; vielmehr nimmt er hier und
dort, was ihm das beste dünkt -- bei den Eleaten, bei Heraklit, bei
den Pythagoräern, bei Sokrates -- und gestaltet daraus kein eigentlich
logisches, wohl aber ein künstlerisches Ganzes. Die Stellung Plato's
zu den früheren Philosophen Griechenlands ist derjenigen Homer's zu
den vorangegangenen und zeitgenössischen Sängern durchaus nicht
unähnlich. Auch Homer "erfand" wahrscheinlich nichts (ebensowenig
wie später Shakespeare); er griff aber aus verschiedenen Quellen das-
jenige heraus, was zu seinem Zwecke passte, und fügte es zu einem
neuen Ganzen zusammen, zu etwas durchaus Individuellem, begabt
mit den unvergleichlichen Eigenschaften des lebendigen Individuums,
behaftet mit den von dem Wesen des Individuums nicht zu trennenden
engen Grenzen, Lücken, Eigenheiten, -- denn jegliches Individuum
spricht mit dem Gott der ägyptischen Mysterien: "Ich bin, der ich
bin," und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes
da.1) Ähnlich Plato's Weltanschauung. Professor Zeller, der berühmte
Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie, meint: "Plato ist zu
sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein." Es dürfte schwer fallen,
dieser Kritik irgend einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Gott weiss,
was ein "Philosoph" in abstracto sein mag; Plato war er selber,
kein andrer; und an ihm erkennen wir, wie ein Geist gestaltet sein
musste, um griechisches Denken zu seiner höchsten Blüte zu führen.
Er ist der Homer dieses Denkens. Wenn ein Mann, der die
nötige Kompetenz besässe, die Lehre Plato's derartig zergliederte, dass
man deutlich gewahr würde, welche Bestandteile nicht durch den
Vorgang des genialen Wiedergebärens allein, sondern als ganz neue
Erfindungen ureigenes Eigentum des grossen Denkers sind, so würde
das Dichterische seines Verfahrens gewiss besonders klar werden.
Montesquieu nennt Plato denn auch (in seinen Pensees) einen der
vier grossen Dichter der Menschheit! Namentlich würde dasjenige,
was man als widerspruchsvoll, als nicht Zusammenzureimendes
tadelt, sich als künstlerische Notwendigkeit erweisen. Das

1) "Ein echtes Kunstwerk bleibt wie ein Naturwerk für unsern Verstand
immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht
eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen
werden." (Goethe.)

Hellenische Kunst und Philosophie.
Bewusstseins ein logisches Weltsystem herauszukalkulieren; ebenso-
wenig greift er mit der grossartigen Unbefangenheit (ingenuitas) des
Descartes der Natur in die Eingeweide, in dem Wahn, dort als Welt-
erklärung ein Räderwerk zu entdecken; vielmehr nimmt er hier und
dort, was ihm das beste dünkt — bei den Eleaten, bei Heraklit, bei
den Pythagoräern, bei Sokrates — und gestaltet daraus kein eigentlich
logisches, wohl aber ein künstlerisches Ganzes. Die Stellung Plato’s
zu den früheren Philosophen Griechenlands ist derjenigen Homer’s zu
den vorangegangenen und zeitgenössischen Sängern durchaus nicht
unähnlich. Auch Homer »erfand« wahrscheinlich nichts (ebensowenig
wie später Shakespeare); er griff aber aus verschiedenen Quellen das-
jenige heraus, was zu seinem Zwecke passte, und fügte es zu einem
neuen Ganzen zusammen, zu etwas durchaus Individuellem, begabt
mit den unvergleichlichen Eigenschaften des lebendigen Individuums,
behaftet mit den von dem Wesen des Individuums nicht zu trennenden
engen Grenzen, Lücken, Eigenheiten, — denn jegliches Individuum
spricht mit dem Gott der ägyptischen Mysterien: »Ich bin, der ich
bin,« und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes
da.1) Ähnlich Plato’s Weltanschauung. Professor Zeller, der berühmte
Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie, meint: »Plato ist zu
sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein.« Es dürfte schwer fallen,
dieser Kritik irgend einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Gott weiss,
was ein »Philosoph« in abstracto sein mag; Plato war er selber,
kein andrer; und an ihm erkennen wir, wie ein Geist gestaltet sein
musste, um griechisches Denken zu seiner höchsten Blüte zu führen.
Er ist der Homer dieses Denkens. Wenn ein Mann, der die
nötige Kompetenz besässe, die Lehre Plato’s derartig zergliederte, dass
man deutlich gewahr würde, welche Bestandteile nicht durch den
Vorgang des genialen Wiedergebärens allein, sondern als ganz neue
Erfindungen ureigenes Eigentum des grossen Denkers sind, so würde
das Dichterische seines Verfahrens gewiss besonders klar werden.
Montesquieu nennt Plato denn auch (in seinen Pensées) einen der
vier grossen Dichter der Menschheit! Namentlich würde dasjenige,
was man als widerspruchsvoll, als nicht Zusammenzureimendes
tadelt, sich als künstlerische Notwendigkeit erweisen. Das

1) »Ein echtes Kunstwerk bleibt wie ein Naturwerk für unsern Verstand
immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht
eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen
werden.« (Goethe.)
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[79/0102] Hellenische Kunst und Philosophie. Bewusstseins ein logisches Weltsystem herauszukalkulieren; ebenso- wenig greift er mit der grossartigen Unbefangenheit (ingenuitas) des Descartes der Natur in die Eingeweide, in dem Wahn, dort als Welt- erklärung ein Räderwerk zu entdecken; vielmehr nimmt er hier und dort, was ihm das beste dünkt — bei den Eleaten, bei Heraklit, bei den Pythagoräern, bei Sokrates — und gestaltet daraus kein eigentlich logisches, wohl aber ein künstlerisches Ganzes. Die Stellung Plato’s zu den früheren Philosophen Griechenlands ist derjenigen Homer’s zu den vorangegangenen und zeitgenössischen Sängern durchaus nicht unähnlich. Auch Homer »erfand« wahrscheinlich nichts (ebensowenig wie später Shakespeare); er griff aber aus verschiedenen Quellen das- jenige heraus, was zu seinem Zwecke passte, und fügte es zu einem neuen Ganzen zusammen, zu etwas durchaus Individuellem, begabt mit den unvergleichlichen Eigenschaften des lebendigen Individuums, behaftet mit den von dem Wesen des Individuums nicht zu trennenden engen Grenzen, Lücken, Eigenheiten, — denn jegliches Individuum spricht mit dem Gott der ägyptischen Mysterien: »Ich bin, der ich bin,« und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes da. 1) Ähnlich Plato’s Weltanschauung. Professor Zeller, der berühmte Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie, meint: »Plato ist zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein.« Es dürfte schwer fallen, dieser Kritik irgend einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Gott weiss, was ein »Philosoph« in abstracto sein mag; Plato war er selber, kein andrer; und an ihm erkennen wir, wie ein Geist gestaltet sein musste, um griechisches Denken zu seiner höchsten Blüte zu führen. Er ist der Homer dieses Denkens. Wenn ein Mann, der die nötige Kompetenz besässe, die Lehre Plato’s derartig zergliederte, dass man deutlich gewahr würde, welche Bestandteile nicht durch den Vorgang des genialen Wiedergebärens allein, sondern als ganz neue Erfindungen ureigenes Eigentum des grossen Denkers sind, so würde das Dichterische seines Verfahrens gewiss besonders klar werden. Montesquieu nennt Plato denn auch (in seinen Pensées) einen der vier grossen Dichter der Menschheit! Namentlich würde dasjenige, was man als widerspruchsvoll, als nicht Zusammenzureimendes tadelt, sich als künstlerische Notwendigkeit erweisen. Das 1) »Ein echtes Kunstwerk bleibt wie ein Naturwerk für unsern Verstand immer unendlich: es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.« (Goethe.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/102>, abgerufen am 23.11.2024.