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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Die Physiologie zählt hier Erscheinungen auf, welche
für Jeden, der neu zu solchen Dingen hinzutritt, etwas
Mährchenhaftes haben müssen. Es kann z. B. von der
Rapidität solcher Vorgänge einigermaßen einen Begriff
geben, wenn ich erwähne, daß unser eigener Körper bei
seinem embryonischen Beginn in Zeit eines einzigen Mond¬
umlaufs um mehr als 500 Mal seiner Länge oder etwa
25000 Mal seines Umfanges sich vergrößert, und daß er
sogar noch im folgenden zweiten Mondumlaufe mindestens
um das 50fache an Masse zunimmt, während dabei zugleich
im Innern immer Zelle an Zelle sich reihend, die äußere
Gestalt des Leibes, wie die Gliederung der einzelnen innern
organischen Systeme, fortwährend mit der außerordentlich¬
sten Zweckmäßigkeit und Zartheit hergestellt wird. Die
mikroskopische Beobachtung sich entwickelnder thierischer Or¬
ganismen hat hier namentlich die Wissenschaft erleuchtet,
und überall naturgemäße Vorstellungen über die verhält¬
nißmäßig wahrhaft ungeheure Schnelligkeit solcher Bil¬
dungsgeschichten verbreitet, und wenn wir dergleichen nun
im höhern Sinne bedenken, so muß es uns vollkommen
deutlich werden lassen: welche außerordentliche Ge¬
walt auch in dieser Beziehung ein ganz und
gar unbewußt sich darlebendes Göttliches in
solchen Vorgängen zu äußern vermag
.

Schon diese dem göttlichen seelischen Princip eigene
Gewalt, dieses absolute Beherrschen und Durchdringen des
Stoffes zu einer Zeit, wo dieses Seelische nur ganz in
sich versenkt, gleichsam träumend bildet, oder, weil es noch
nicht in Gedanken denkt, in Formen denken muß, bringt
uns, wenn wir ihr nun recht mit Bewußtsein nachgehen,
einen großen Schritt näher zur Selbsterkenntniß und zum
Verstehen unserer Seele. Merkwürdig ist es freilich, da¬
gegen auch gewahr zu werden, daß diese Schnelligkeit des
sich Darlebens der Idee entschieden abnimmt, je mehr
das eigentliche Ziel dieses Lebens bereits für erreicht zu

Die Phyſiologie zählt hier Erſcheinungen auf, welche
für Jeden, der neu zu ſolchen Dingen hinzutritt, etwas
Mährchenhaftes haben müſſen. Es kann z. B. von der
Rapidität ſolcher Vorgänge einigermaßen einen Begriff
geben, wenn ich erwähne, daß unſer eigener Körper bei
ſeinem embryoniſchen Beginn in Zeit eines einzigen Mond¬
umlaufs um mehr als 500 Mal ſeiner Länge oder etwa
25000 Mal ſeines Umfanges ſich vergrößert, und daß er
ſogar noch im folgenden zweiten Mondumlaufe mindeſtens
um das 50fache an Maſſe zunimmt, während dabei zugleich
im Innern immer Zelle an Zelle ſich reihend, die äußere
Geſtalt des Leibes, wie die Gliederung der einzelnen innern
organiſchen Syſteme, fortwährend mit der außerordentlich¬
ſten Zweckmäßigkeit und Zartheit hergeſtellt wird. Die
mikroſkopiſche Beobachtung ſich entwickelnder thieriſcher Or¬
ganismen hat hier namentlich die Wiſſenſchaft erleuchtet,
und überall naturgemäße Vorſtellungen über die verhält¬
nißmäßig wahrhaft ungeheure Schnelligkeit ſolcher Bil¬
dungsgeſchichten verbreitet, und wenn wir dergleichen nun
im höhern Sinne bedenken, ſo muß es uns vollkommen
deutlich werden laſſen: welche außerordentliche Ge¬
walt auch in dieſer Beziehung ein ganz und
gar unbewußt ſich darlebendes Göttliches in
ſolchen Vorgängen zu äußern vermag
.

Schon dieſe dem göttlichen ſeeliſchen Princip eigene
Gewalt, dieſes abſolute Beherrſchen und Durchdringen des
Stoffes zu einer Zeit, wo dieſes Seeliſche nur ganz in
ſich verſenkt, gleichſam träumend bildet, oder, weil es noch
nicht in Gedanken denkt, in Formen denken muß, bringt
uns, wenn wir ihr nun recht mit Bewußtſein nachgehen,
einen großen Schritt näher zur Selbſterkenntniß und zum
Verſtehen unſerer Seele. Merkwürdig iſt es freilich, da¬
gegen auch gewahr zu werden, daß dieſe Schnelligkeit des
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[35/0051] Die Phyſiologie zählt hier Erſcheinungen auf, welche für Jeden, der neu zu ſolchen Dingen hinzutritt, etwas Mährchenhaftes haben müſſen. Es kann z. B. von der Rapidität ſolcher Vorgänge einigermaßen einen Begriff geben, wenn ich erwähne, daß unſer eigener Körper bei ſeinem embryoniſchen Beginn in Zeit eines einzigen Mond¬ umlaufs um mehr als 500 Mal ſeiner Länge oder etwa 25000 Mal ſeines Umfanges ſich vergrößert, und daß er ſogar noch im folgenden zweiten Mondumlaufe mindeſtens um das 50fache an Maſſe zunimmt, während dabei zugleich im Innern immer Zelle an Zelle ſich reihend, die äußere Geſtalt des Leibes, wie die Gliederung der einzelnen innern organiſchen Syſteme, fortwährend mit der außerordentlich¬ ſten Zweckmäßigkeit und Zartheit hergeſtellt wird. Die mikroſkopiſche Beobachtung ſich entwickelnder thieriſcher Or¬ ganismen hat hier namentlich die Wiſſenſchaft erleuchtet, und überall naturgemäße Vorſtellungen über die verhält¬ nißmäßig wahrhaft ungeheure Schnelligkeit ſolcher Bil¬ dungsgeſchichten verbreitet, und wenn wir dergleichen nun im höhern Sinne bedenken, ſo muß es uns vollkommen deutlich werden laſſen: welche außerordentliche Ge¬ walt auch in dieſer Beziehung ein ganz und gar unbewußt ſich darlebendes Göttliches in ſolchen Vorgängen zu äußern vermag. Schon dieſe dem göttlichen ſeeliſchen Princip eigene Gewalt, dieſes abſolute Beherrſchen und Durchdringen des Stoffes zu einer Zeit, wo dieſes Seeliſche nur ganz in ſich verſenkt, gleichſam träumend bildet, oder, weil es noch nicht in Gedanken denkt, in Formen denken muß, bringt uns, wenn wir ihr nun recht mit Bewußtſein nachgehen, einen großen Schritt näher zur Selbſterkenntniß und zum Verſtehen unſerer Seele. Merkwürdig iſt es freilich, da¬ gegen auch gewahr zu werden, daß dieſe Schnelligkeit des ſich Darlebens der Idee entſchieden abnimmt, je mehr das eigentliche Ziel dieſes Lebens bereits für erreicht zu

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/51>, abgerufen am 27.04.2024.