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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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halten ist. Schon das obige Beispiel zeigt, wie bald die
Rapidität des Entwicklungsprocesses nachläßt, aber wenn
wir weiter der Geschichte des Lebens nachgehen, so finden
wir noch vor dem ersten Viertheil der Lebenszeit Aufhören
allgemeinen Wachsthums und in spätern Zeiträumen mehr
und mehr Erstarrung, Rückbildung und Verkümmerung;
Vorgänge, die dann ebenfalls nicht ermangeln in den Zu¬
ständen des bewußten Seelenlebens eine entschiedene Wieder¬
spiegelung wahrnehmen zu lassen, und welche beweisen,
daß dem Unendlichen der Idee gegenüber, jede endliche
Offenbarung derselben immer nur ein Unvollkommenes sein
kann und über lang oder kurz sich wieder in sich auflösen
und verlieren muß.

Verfolgen wir gegenwärtig weiter die Darbildung
besonderer Systeme und besonderer Gebilde in diesem orga¬
nischen Werden, so ist eine Erscheinung noch besonders
hervorzuheben, die zwar früher schon im Allgemeinen an¬
gedeutet wurde, aber wegen ihrer höhern geistigen Bedeu¬
tung jetzt noch näher zu bezeichnen ist; wir meinen nämlich
das Verschmelzen jener ersten gegebenen Einheiten, der
durch immer wiederholtes Setzen der Idee entstandenen
Urzellen, zu immer höheren Ganzen. So gewiß es näm¬
lich ist, daß Alles im Organismus mit dem Zellenbau
anfängt, so gewiß ist es, daß in allen höheren Gebilden,
als da sind: Nervenfasern, Muskelfasern, Gefäßen und
Membranen, diese Urzellen in fortgehender Bildung völlig
untereinander verschmelzen, als einzelne untergehen, und
so das schon im Unbewußten zeigen, was zuletzt im Be¬
wußten eine höhere Lebensaufgabe wird, nämlich: das
Untergehen des Besondern im Allgemeinen
. Merk¬
würdig und bedeutungsvoll ist dabei jedoch, daß jene Ur¬
formen nicht überall ganz verschwinden, sondern an zweierlei
Stellen durchaus als solche verharren, nämlich da, wo
ein ganz Niederes, bloß Elementares dargestellt wird, so
im umlaufenden Blute als sogenannte Blutkörperchen, so

halten iſt. Schon das obige Beiſpiel zeigt, wie bald die
Rapidität des Entwicklungsproceſſes nachläßt, aber wenn
wir weiter der Geſchichte des Lebens nachgehen, ſo finden
wir noch vor dem erſten Viertheil der Lebenszeit Aufhören
allgemeinen Wachsthums und in ſpätern Zeiträumen mehr
und mehr Erſtarrung, Rückbildung und Verkümmerung;
Vorgänge, die dann ebenfalls nicht ermangeln in den Zu¬
ſtänden des bewußten Seelenlebens eine entſchiedene Wieder¬
ſpiegelung wahrnehmen zu laſſen, und welche beweiſen,
daß dem Unendlichen der Idee gegenüber, jede endliche
Offenbarung derſelben immer nur ein Unvollkommenes ſein
kann und über lang oder kurz ſich wieder in ſich auflöſen
und verlieren muß.

Verfolgen wir gegenwärtig weiter die Darbildung
beſonderer Syſteme und beſonderer Gebilde in dieſem orga¬
niſchen Werden, ſo iſt eine Erſcheinung noch beſonders
hervorzuheben, die zwar früher ſchon im Allgemeinen an¬
gedeutet wurde, aber wegen ihrer höhern geiſtigen Bedeu¬
tung jetzt noch näher zu bezeichnen iſt; wir meinen nämlich
das Verſchmelzen jener erſten gegebenen Einheiten, der
durch immer wiederholtes Setzen der Idee entſtandenen
Urzellen, zu immer höheren Ganzen. So gewiß es näm¬
lich iſt, daß Alles im Organismus mit dem Zellenbau
anfängt, ſo gewiß iſt es, daß in allen höheren Gebilden,
als da ſind: Nervenfaſern, Muskelfaſern, Gefäßen und
Membranen, dieſe Urzellen in fortgehender Bildung völlig
untereinander verſchmelzen, als einzelne untergehen, und
ſo das ſchon im Unbewußten zeigen, was zuletzt im Be¬
wußten eine höhere Lebensaufgabe wird, nämlich: das
Untergehen des Beſondern im Allgemeinen
. Merk¬
würdig und bedeutungsvoll iſt dabei jedoch, daß jene Ur¬
formen nicht überall ganz verſchwinden, ſondern an zweierlei
Stellen durchaus als ſolche verharren, nämlich da, wo
ein ganz Niederes, bloß Elementares dargeſtellt wird, ſo
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[36/0052] halten iſt. Schon das obige Beiſpiel zeigt, wie bald die Rapidität des Entwicklungsproceſſes nachläßt, aber wenn wir weiter der Geſchichte des Lebens nachgehen, ſo finden wir noch vor dem erſten Viertheil der Lebenszeit Aufhören allgemeinen Wachsthums und in ſpätern Zeiträumen mehr und mehr Erſtarrung, Rückbildung und Verkümmerung; Vorgänge, die dann ebenfalls nicht ermangeln in den Zu¬ ſtänden des bewußten Seelenlebens eine entſchiedene Wieder¬ ſpiegelung wahrnehmen zu laſſen, und welche beweiſen, daß dem Unendlichen der Idee gegenüber, jede endliche Offenbarung derſelben immer nur ein Unvollkommenes ſein kann und über lang oder kurz ſich wieder in ſich auflöſen und verlieren muß. Verfolgen wir gegenwärtig weiter die Darbildung beſonderer Syſteme und beſonderer Gebilde in dieſem orga¬ niſchen Werden, ſo iſt eine Erſcheinung noch beſonders hervorzuheben, die zwar früher ſchon im Allgemeinen an¬ gedeutet wurde, aber wegen ihrer höhern geiſtigen Bedeu¬ tung jetzt noch näher zu bezeichnen iſt; wir meinen nämlich das Verſchmelzen jener erſten gegebenen Einheiten, der durch immer wiederholtes Setzen der Idee entſtandenen Urzellen, zu immer höheren Ganzen. So gewiß es näm¬ lich iſt, daß Alles im Organismus mit dem Zellenbau anfängt, ſo gewiß iſt es, daß in allen höheren Gebilden, als da ſind: Nervenfaſern, Muskelfaſern, Gefäßen und Membranen, dieſe Urzellen in fortgehender Bildung völlig untereinander verſchmelzen, als einzelne untergehen, und ſo das ſchon im Unbewußten zeigen, was zuletzt im Be¬ wußten eine höhere Lebensaufgabe wird, nämlich: das Untergehen des Beſondern im Allgemeinen. Merk¬ würdig und bedeutungsvoll iſt dabei jedoch, daß jene Ur¬ formen nicht überall ganz verſchwinden, ſondern an zweierlei Stellen durchaus als ſolche verharren, nämlich da, wo ein ganz Niederes, bloß Elementares dargeſtellt wird, ſo im umlaufenden Blute als ſogenannte Blutkörperchen, ſo

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/52>, abgerufen am 24.11.2024.