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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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dieses selbst, und dadurch, daß diese unbewußten Vorgänge
auf eigenthümliche Weise im selbstbewußten Geiste wieder¬
klingen, entsteht im Verein und durch gleichzeitige Vorstel¬
lungen des Unglücks, das was wir Trauer nennen. Erst
auf diese Weise verstehen wir vollkommen, wie, auch wenn
in unserer Vorstellungswelt bestimmte Veranlassungen zur
Trauer fehlen, eine ganz von außen kommende Krankheit,
welche die Organe der Blutumbildung -- namentlich das
Zersetzungsorgan aller Blutkörperchen -- die Leber -- in
leidenden Zustand versetzt, schon an und für sich eine traurige
schwermüthige Stimmung nicht nur in sich begreift, sondern
zum Theil selbst ist; wir verstehen, wie die mangelhafte Blut¬
bildung der Bleichsucht als trübe niedergeschlagene Stimmung
im Bewußtsein anklingen muß, und wiederum wie ein plötz¬
lich im Vorstellungsleben hereinbrechendes Unglück, unmit¬
telbar Lähmung des Herzens und Stockung des Blutlaufs
bedingen kann u. s. w. Eine besondere Erscheinung aber,
welche noch ganz eigenthümlich am Organismus die höhern
Grade der Trauer eben so unausweichbar bezeichnet wie
das Lachen die Freude, ist das Weinen, und wieder ist
auch hier die physiologische Bedeutung sehr merkwürdig.
Das Blutleben, der unbewußte Herd freudiger und trau¬
riger Gefühlswelt, hat nämlich zwei Pole: die Athmung,
in welchem es sich stätig erneut und bildet, und die Ab¬
sonderung, in welcher es stätig untergeht und sich zersetzt.
Wie daher das Lachen als beschleunigte, regeres Blutleben
fördernde Athembewegung, der Freude sich eignet, so wird
das Weinen, als eigenthümliche Absonderung, zum Symbol
der Trauer; denn auf geheimnißvolle Weise wiederholen
sich im Haupte die Vorgänge des übrigen Leibes, und wie
im Geruchsorgane eine Wiederholung der Brustrespiration
erscheint, so kommen im Auge gewisse Vorgänge der Ver¬
dauungsregion zur Wiederdarbildung, und so zeigen sich
Störungen derselben in veränderter Beschaffenheit der Pupille
und Bindehaut des Auges. Deßhalb also auch die geheime

dieſes ſelbſt, und dadurch, daß dieſe unbewußten Vorgänge
auf eigenthümliche Weiſe im ſelbſtbewußten Geiſte wieder¬
klingen, entſteht im Verein und durch gleichzeitige Vorſtel¬
lungen des Unglücks, das was wir Trauer nennen. Erſt
auf dieſe Weiſe verſtehen wir vollkommen, wie, auch wenn
in unſerer Vorſtellungswelt beſtimmte Veranlaſſungen zur
Trauer fehlen, eine ganz von außen kommende Krankheit,
welche die Organe der Blutumbildung — namentlich das
Zerſetzungsorgan aller Blutkörperchen — die Leber — in
leidenden Zuſtand verſetzt, ſchon an und für ſich eine traurige
ſchwermüthige Stimmung nicht nur in ſich begreift, ſondern
zum Theil ſelbſt iſt; wir verſtehen, wie die mangelhafte Blut¬
bildung der Bleichſucht als trübe niedergeſchlagene Stimmung
im Bewußtſein anklingen muß, und wiederum wie ein plötz¬
lich im Vorſtellungsleben hereinbrechendes Unglück, unmit¬
telbar Lähmung des Herzens und Stockung des Blutlaufs
bedingen kann u. ſ. w. Eine beſondere Erſcheinung aber,
welche noch ganz eigenthümlich am Organismus die höhern
Grade der Trauer eben ſo unausweichbar bezeichnet wie
das Lachen die Freude, iſt das Weinen, und wieder iſt
auch hier die phyſiologiſche Bedeutung ſehr merkwürdig.
Das Blutleben, der unbewußte Herd freudiger und trau¬
riger Gefühlswelt, hat nämlich zwei Pole: die Athmung,
in welchem es ſich ſtätig erneut und bildet, und die Ab¬
ſonderung, in welcher es ſtätig untergeht und ſich zerſetzt.
Wie daher das Lachen als beſchleunigte, regeres Blutleben
fördernde Athembewegung, der Freude ſich eignet, ſo wird
das Weinen, als eigenthümliche Abſonderung, zum Symbol
der Trauer; denn auf geheimnißvolle Weiſe wiederholen
ſich im Haupte die Vorgänge des übrigen Leibes, und wie
im Geruchsorgane eine Wiederholung der Bruſtreſpiration
erſcheint, ſo kommen im Auge gewiſſe Vorgänge der Ver¬
dauungsregion zur Wiederdarbildung, und ſo zeigen ſich
Störungen derſelben in veränderter Beſchaffenheit der Pupille
und Bindehaut des Auges. Deßhalb alſo auch die geheime

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[276/0292] dieſes ſelbſt, und dadurch, daß dieſe unbewußten Vorgänge auf eigenthümliche Weiſe im ſelbſtbewußten Geiſte wieder¬ klingen, entſteht im Verein und durch gleichzeitige Vorſtel¬ lungen des Unglücks, das was wir Trauer nennen. Erſt auf dieſe Weiſe verſtehen wir vollkommen, wie, auch wenn in unſerer Vorſtellungswelt beſtimmte Veranlaſſungen zur Trauer fehlen, eine ganz von außen kommende Krankheit, welche die Organe der Blutumbildung — namentlich das Zerſetzungsorgan aller Blutkörperchen — die Leber — in leidenden Zuſtand verſetzt, ſchon an und für ſich eine traurige ſchwermüthige Stimmung nicht nur in ſich begreift, ſondern zum Theil ſelbſt iſt; wir verſtehen, wie die mangelhafte Blut¬ bildung der Bleichſucht als trübe niedergeſchlagene Stimmung im Bewußtſein anklingen muß, und wiederum wie ein plötz¬ lich im Vorſtellungsleben hereinbrechendes Unglück, unmit¬ telbar Lähmung des Herzens und Stockung des Blutlaufs bedingen kann u. ſ. w. Eine beſondere Erſcheinung aber, welche noch ganz eigenthümlich am Organismus die höhern Grade der Trauer eben ſo unausweichbar bezeichnet wie das Lachen die Freude, iſt das Weinen, und wieder iſt auch hier die phyſiologiſche Bedeutung ſehr merkwürdig. Das Blutleben, der unbewußte Herd freudiger und trau¬ riger Gefühlswelt, hat nämlich zwei Pole: die Athmung, in welchem es ſich ſtätig erneut und bildet, und die Ab¬ ſonderung, in welcher es ſtätig untergeht und ſich zerſetzt. Wie daher das Lachen als beſchleunigte, regeres Blutleben fördernde Athembewegung, der Freude ſich eignet, ſo wird das Weinen, als eigenthümliche Abſonderung, zum Symbol der Trauer; denn auf geheimnißvolle Weiſe wiederholen ſich im Haupte die Vorgänge des übrigen Leibes, und wie im Geruchsorgane eine Wiederholung der Bruſtreſpiration erſcheint, ſo kommen im Auge gewiſſe Vorgänge der Ver¬ dauungsregion zur Wiederdarbildung, und ſo zeigen ſich Störungen derſelben in veränderter Beſchaffenheit der Pupille und Bindehaut des Auges. Deßhalb alſo auch die geheime

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/292>, abgerufen am 18.05.2024.