Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

wir das Gewebe jenes merkwürdigen Gebildes, das wir
Gehirn nennen, tausend und tausendfältig durch die Aus¬
strahlungen der Faserbündel jener zartesten halbflüssigen
krystallhellen Primitivfasern überall durchdrungen und ver¬
bunden finden. Alle und jede Lagerung primitiver Bläschen¬
substanz ist mannichfaltig durch Leitungsbogen mit den meisten
übrigen verknüpft, und so wie im höher gebildeten Geiste
immer mehr und vollständiger alles Fühlen, Erkennen und
Wollen nur eine Einheit wird, so erscheint auch das organische
Abbild dieses Urbildes, dasselbe Abbild, welches doch an
sich zugleich wieder die Bedingung der Offenbarung
des Urbildes im Selbstbewußtsein wird, immer mehr nur
als ein einiges Ganzes; als ein Ganzes dessen Schädigungen
daher an jeder Stelle immer auf alle Strahlen des psychischen
Lebens zugleich, und nur unter gewissen Umständen auf
eine oder die andre vorherrschend wirken müssen. So löst
sich also jener scheinbare Widerspruch vollständig, welcher
darin gegeben schien, daß einerseits eine lokale Abspiegelung
der drei Grundrichtungen der Seele und ihres jedesmaligen
individuellen Verhältnisses unabweisbar vorhanden war, und
dann doch bei der vollendeten Entwicklung von Seele und
von Gehirn die hergestellte höhere synthetische Einheit wieder
fast alle lokale Beziehung aufhebt. Wer dies Geheim¬
niß
recht begreift, der kann daran sonach gewiß den mög¬
lichst vollständigen Aufschluß über die Art und Weise haben,
wie auch in diesen höchsten Regionen unsers Lebens das
Bewußte durch ein Unbewußtes überall bedingt werde.

Damit jedoch hier, wo es nicht vermieden werden konnte,
die Lehren wie die Irrlehren der Cranioskopie und Phreno¬
logie zu erwähnen, gleich auch in dieser Beziehung noch
einige Aufschlüsse gefunden werden mögen, so will ich noch
beifügen, welche Bewandtniß es mit der Beziehung der
Schädelbildung auf das Gehirn hat. Im Allgemeinen muß
man bedenken, daß das Skelet oder noch bestimmter, das
Nervenskelet, entsteht in Folge des nothwendig geforderten

wir das Gewebe jenes merkwürdigen Gebildes, das wir
Gehirn nennen, tauſend und tauſendfältig durch die Aus¬
ſtrahlungen der Faſerbündel jener zarteſten halbflüſſigen
kryſtallhellen Primitivfaſern überall durchdrungen und ver¬
bunden finden. Alle und jede Lagerung primitiver Bläschen¬
ſubſtanz iſt mannichfaltig durch Leitungsbogen mit den meiſten
übrigen verknüpft, und ſo wie im höher gebildeten Geiſte
immer mehr und vollſtändiger alles Fühlen, Erkennen und
Wollen nur eine Einheit wird, ſo erſcheint auch das organiſche
Abbild dieſes Urbildes, daſſelbe Abbild, welches doch an
ſich zugleich wieder die Bedingung der Offenbarung
des Urbildes im Selbſtbewußtſein wird, immer mehr nur
als ein einiges Ganzes; als ein Ganzes deſſen Schädigungen
daher an jeder Stelle immer auf alle Strahlen des pſychiſchen
Lebens zugleich, und nur unter gewiſſen Umſtänden auf
eine oder die andre vorherrſchend wirken müſſen. So löst
ſich alſo jener ſcheinbare Widerſpruch vollſtändig, welcher
darin gegeben ſchien, daß einerſeits eine lokale Abſpiegelung
der drei Grundrichtungen der Seele und ihres jedesmaligen
individuellen Verhältniſſes unabweisbar vorhanden war, und
dann doch bei der vollendeten Entwicklung von Seele und
von Gehirn die hergeſtellte höhere ſynthetiſche Einheit wieder
faſt alle lokale Beziehung aufhebt. Wer dies Geheim¬
niß
recht begreift, der kann daran ſonach gewiß den mög¬
lichſt vollſtändigen Aufſchluß über die Art und Weiſe haben,
wie auch in dieſen höchſten Regionen unſers Lebens das
Bewußte durch ein Unbewußtes überall bedingt werde.

Damit jedoch hier, wo es nicht vermieden werden konnte,
die Lehren wie die Irrlehren der Cranioſkopie und Phreno¬
logie zu erwähnen, gleich auch in dieſer Beziehung noch
einige Aufſchlüſſe gefunden werden mögen, ſo will ich noch
beifügen, welche Bewandtniß es mit der Beziehung der
Schädelbildung auf das Gehirn hat. Im Allgemeinen muß
man bedenken, daß das Skelet oder noch beſtimmter, das
Nervenſkelet, entſteht in Folge des nothwendig geforderten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0204" n="188"/>
wir das Gewebe jenes merkwürdigen Gebildes, das wir<lb/>
Gehirn nennen, tau&#x017F;end und tau&#x017F;endfältig durch die Aus¬<lb/>
&#x017F;trahlungen der Fa&#x017F;erbündel jener zarte&#x017F;ten halbflü&#x017F;&#x017F;igen<lb/>
kry&#x017F;tallhellen Primitivfa&#x017F;ern überall durchdrungen und ver¬<lb/>
bunden finden. Alle und jede Lagerung primitiver Bläschen¬<lb/>
&#x017F;ub&#x017F;tanz i&#x017F;t mannichfaltig durch Leitungsbogen mit den mei&#x017F;ten<lb/>
übrigen verknüpft, und &#x017F;o wie im höher gebildeten Gei&#x017F;te<lb/>
immer mehr und voll&#x017F;tändiger alles Fühlen, Erkennen und<lb/>
Wollen nur <hi rendition="#g">eine</hi> Einheit wird, &#x017F;o er&#x017F;cheint auch das organi&#x017F;che<lb/>
Abbild die&#x017F;es Urbildes, da&#x017F;&#x017F;elbe Abbild, welches doch an<lb/>
&#x017F;ich zugleich wieder die Bedingung <hi rendition="#g">der Offenbarung</hi><lb/>
des Urbildes im Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein wird, immer mehr nur<lb/>
als ein einiges Ganzes; als ein Ganzes de&#x017F;&#x017F;en Schädigungen<lb/>
daher an jeder Stelle immer auf alle Strahlen des p&#x017F;ychi&#x017F;chen<lb/>
Lebens <hi rendition="#g">zugleich</hi>, und nur unter gewi&#x017F;&#x017F;en Um&#x017F;tänden auf<lb/>
eine oder die andre vorherr&#x017F;chend wirken mü&#x017F;&#x017F;en. So löst<lb/>
&#x017F;ich al&#x017F;o jener &#x017F;cheinbare Wider&#x017F;pruch voll&#x017F;tändig, welcher<lb/>
darin gegeben &#x017F;chien, daß einer&#x017F;eits eine lokale Ab&#x017F;piegelung<lb/>
der drei Grundrichtungen der Seele und ihres jedesmaligen<lb/>
individuellen Verhältni&#x017F;&#x017F;es unabweisbar vorhanden war, und<lb/>
dann doch bei der vollendeten Entwicklung von Seele und<lb/>
von Gehirn die herge&#x017F;tellte höhere &#x017F;yntheti&#x017F;che Einheit wieder<lb/>
fa&#x017F;t alle lokale Beziehung aufhebt. Wer <hi rendition="#g">dies Geheim¬<lb/>
niß</hi> recht begreift, der kann daran &#x017F;onach gewiß den mög¬<lb/>
lich&#x017F;t voll&#x017F;tändigen Auf&#x017F;chluß über die Art und Wei&#x017F;e haben,<lb/>
wie auch in die&#x017F;en höch&#x017F;ten Regionen un&#x017F;ers Lebens das<lb/>
Bewußte durch ein Unbewußtes überall bedingt werde.</p><lb/>
          <p>Damit jedoch hier, wo es nicht vermieden werden konnte,<lb/>
die Lehren wie die Irrlehren der Cranio&#x017F;kopie und Phreno¬<lb/>
logie zu erwähnen, gleich auch in die&#x017F;er Beziehung noch<lb/>
einige Auf&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e gefunden werden mögen, &#x017F;o will ich noch<lb/>
beifügen, welche Bewandtniß es mit der Beziehung der<lb/>
Schädelbildung auf das Gehirn hat. Im Allgemeinen muß<lb/>
man bedenken, daß das Skelet oder noch be&#x017F;timmter, das<lb/>
Nerven&#x017F;kelet, ent&#x017F;teht in Folge des nothwendig geforderten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0204] wir das Gewebe jenes merkwürdigen Gebildes, das wir Gehirn nennen, tauſend und tauſendfältig durch die Aus¬ ſtrahlungen der Faſerbündel jener zarteſten halbflüſſigen kryſtallhellen Primitivfaſern überall durchdrungen und ver¬ bunden finden. Alle und jede Lagerung primitiver Bläschen¬ ſubſtanz iſt mannichfaltig durch Leitungsbogen mit den meiſten übrigen verknüpft, und ſo wie im höher gebildeten Geiſte immer mehr und vollſtändiger alles Fühlen, Erkennen und Wollen nur eine Einheit wird, ſo erſcheint auch das organiſche Abbild dieſes Urbildes, daſſelbe Abbild, welches doch an ſich zugleich wieder die Bedingung der Offenbarung des Urbildes im Selbſtbewußtſein wird, immer mehr nur als ein einiges Ganzes; als ein Ganzes deſſen Schädigungen daher an jeder Stelle immer auf alle Strahlen des pſychiſchen Lebens zugleich, und nur unter gewiſſen Umſtänden auf eine oder die andre vorherrſchend wirken müſſen. So löst ſich alſo jener ſcheinbare Widerſpruch vollſtändig, welcher darin gegeben ſchien, daß einerſeits eine lokale Abſpiegelung der drei Grundrichtungen der Seele und ihres jedesmaligen individuellen Verhältniſſes unabweisbar vorhanden war, und dann doch bei der vollendeten Entwicklung von Seele und von Gehirn die hergeſtellte höhere ſynthetiſche Einheit wieder faſt alle lokale Beziehung aufhebt. Wer dies Geheim¬ niß recht begreift, der kann daran ſonach gewiß den mög¬ lichſt vollſtändigen Aufſchluß über die Art und Weiſe haben, wie auch in dieſen höchſten Regionen unſers Lebens das Bewußte durch ein Unbewußtes überall bedingt werde. Damit jedoch hier, wo es nicht vermieden werden konnte, die Lehren wie die Irrlehren der Cranioſkopie und Phreno¬ logie zu erwähnen, gleich auch in dieſer Beziehung noch einige Aufſchlüſſe gefunden werden mögen, ſo will ich noch beifügen, welche Bewandtniß es mit der Beziehung der Schädelbildung auf das Gehirn hat. Im Allgemeinen muß man bedenken, daß das Skelet oder noch beſtimmter, das Nervenſkelet, entſteht in Folge des nothwendig geforderten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/204
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/204>, abgerufen am 04.05.2024.