Erstens die Anwendung operativer Kunsthülfe zur För- derung des Geburtsgeschäfts überhaupt betreffend, so ist es da- mit häufig wie mit andern großen Heilmitteln der Medicin gegangen, man hat sie nämlich bald überschätzt und viel zu oft eintreten laßen, bald aber auch zu sehr vernachläßigt, ja sie lieber ganz und gar als eine Verirrung darstellen wol- len. -- Zu dem erstern ist die Verführung allerdings sehr groß; der Arzt sieht die Mittel, die Geburt des Kindes, fast zu jedem beliebigen Zeitraume des Geburtsgeschäfts, künstlich beendigen zu können, in seinen Händen, er findet in den Schmerzen der Kreisenden, ihren ängstlichen Bitten um Hülfe, dem Dringen ihrer Angehörigen und der Beschränkung seiner eigenen Zeit oft die Anzeige zur Hülfsleistung, welche doch einzig von dem Stande des Geburtsgeschäfts bestimmt wer- den sollte.
§. 1139.
Hat der Arzt auf diese Weise öfters die Beschleunigung der Geburt, und zwar mehreremale ohne augenblicklich wahr- nehmbare allzunachtheilige Folgen bewerkstelligt, so wird er endlich die Achtung gegen die einfache, große, und zweck- mäßige Wirksamkeit der Natur immer mehr aus den Augen verlieren, er wird in dem gemessenen allmähligen Gange der Natur nur krankhafte Trägheit sehen, immerfort an der Ge- burtsfunktion zu meistern finden, und zuletzt durch unzeitige Kunsthülfe für Mutter und Kind häufig die gefährlichsten Zufälle, entweder unmittelbar herbeiführen oder doch für spä- tere Zeit veranlaßen. Daß diese Richtung immer noch die allgemeinere sey, kann man wohl annehmen, und verbindet sich mit einer solchen unpassenden Ueberschätzung und über- mäßig häufigen Anwendung operativer Hülfsmittel, Rohig- keit und Ungeschicklichkeit in der Anwendung derselben, so ent- steht eine Art der Ausübung dieser Kunst, welche in Zweifel läßt, ob man nicht wünschen solle daß es gar keine, als daß es eine solche Geburtshülfe geben möchte. -- Ursache genug
§. 1138.
Erſtens die Anwendung operativer Kunſthuͤlfe zur Foͤr- derung des Geburtsgeſchaͤfts uͤberhaupt betreffend, ſo iſt es da- mit haͤufig wie mit andern großen Heilmitteln der Medicin gegangen, man hat ſie naͤmlich bald uͤberſchaͤtzt und viel zu oft eintreten laßen, bald aber auch zu ſehr vernachlaͤßigt, ja ſie lieber ganz und gar als eine Verirrung darſtellen wol- len. — Zu dem erſtern iſt die Verfuͤhrung allerdings ſehr groß; der Arzt ſieht die Mittel, die Geburt des Kindes, faſt zu jedem beliebigen Zeitraume des Geburtsgeſchaͤfts, kuͤnſtlich beendigen zu koͤnnen, in ſeinen Haͤnden, er findet in den Schmerzen der Kreiſenden, ihren aͤngſtlichen Bitten um Huͤlfe, dem Dringen ihrer Angehoͤrigen und der Beſchraͤnkung ſeiner eigenen Zeit oft die Anzeige zur Huͤlfsleiſtung, welche doch einzig von dem Stande des Geburtsgeſchaͤfts beſtimmt wer- den ſollte.
§. 1139.
Hat der Arzt auf dieſe Weiſe oͤfters die Beſchleunigung der Geburt, und zwar mehreremale ohne augenblicklich wahr- nehmbare allzunachtheilige Folgen bewerkſtelligt, ſo wird er endlich die Achtung gegen die einfache, große, und zweck- maͤßige Wirkſamkeit der Natur immer mehr aus den Augen verlieren, er wird in dem gemeſſenen allmaͤhligen Gange der Natur nur krankhafte Traͤgheit ſehen, immerfort an der Ge- burtsfunktion zu meiſtern finden, und zuletzt durch unzeitige Kunſthuͤlfe fuͤr Mutter und Kind haͤufig die gefaͤhrlichſten Zufaͤlle, entweder unmittelbar herbeifuͤhren oder doch fuͤr ſpaͤ- tere Zeit veranlaßen. Daß dieſe Richtung immer noch die allgemeinere ſey, kann man wohl annehmen, und verbindet ſich mit einer ſolchen unpaſſenden Ueberſchaͤtzung und uͤber- maͤßig haͤufigen Anwendung operativer Huͤlfsmittel, Rohig- keit und Ungeſchicklichkeit in der Anwendung derſelben, ſo ent- ſteht eine Art der Ausuͤbung dieſer Kunſt, welche in Zweifel laͤßt, ob man nicht wuͤnſchen ſolle daß es gar keine, als daß es eine ſolche Geburtshuͤlfe geben moͤchte. — Urſache genug
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§. 1138.
Erſtens die Anwendung operativer Kunſthuͤlfe zur Foͤr-
derung des Geburtsgeſchaͤfts uͤberhaupt betreffend, ſo iſt es da-
mit haͤufig wie mit andern großen Heilmitteln der Medicin
gegangen, man hat ſie naͤmlich bald uͤberſchaͤtzt und viel zu
oft eintreten laßen, bald aber auch zu ſehr vernachlaͤßigt, ja
ſie lieber ganz und gar als eine Verirrung darſtellen wol-
len. — Zu dem erſtern iſt die Verfuͤhrung allerdings ſehr
groß; der Arzt ſieht die Mittel, die Geburt des Kindes, faſt
zu jedem beliebigen Zeitraume des Geburtsgeſchaͤfts, kuͤnſtlich
beendigen zu koͤnnen, in ſeinen Haͤnden, er findet in den
Schmerzen der Kreiſenden, ihren aͤngſtlichen Bitten um Huͤlfe,
dem Dringen ihrer Angehoͤrigen und der Beſchraͤnkung ſeiner
eigenen Zeit oft die Anzeige zur Huͤlfsleiſtung, welche doch
einzig von dem Stande des Geburtsgeſchaͤfts beſtimmt wer-
den ſollte.
§. 1139.
Hat der Arzt auf dieſe Weiſe oͤfters die Beſchleunigung
der Geburt, und zwar mehreremale ohne augenblicklich wahr-
nehmbare allzunachtheilige Folgen bewerkſtelligt, ſo wird er
endlich die Achtung gegen die einfache, große, und zweck-
maͤßige Wirkſamkeit der Natur immer mehr aus den Augen
verlieren, er wird in dem gemeſſenen allmaͤhligen Gange der
Natur nur krankhafte Traͤgheit ſehen, immerfort an der Ge-
burtsfunktion zu meiſtern finden, und zuletzt durch unzeitige
Kunſthuͤlfe fuͤr Mutter und Kind haͤufig die gefaͤhrlichſten
Zufaͤlle, entweder unmittelbar herbeifuͤhren oder doch fuͤr ſpaͤ-
tere Zeit veranlaßen. Daß dieſe Richtung immer noch die
allgemeinere ſey, kann man wohl annehmen, und verbindet
ſich mit einer ſolchen unpaſſenden Ueberſchaͤtzung und uͤber-
maͤßig haͤufigen Anwendung operativer Huͤlfsmittel, Rohig-
keit und Ungeſchicklichkeit in der Anwendung derſelben, ſo ent-
ſteht eine Art der Ausuͤbung dieſer Kunſt, welche in Zweifel
laͤßt, ob man nicht wuͤnſchen ſolle daß es gar keine, als daß
es eine ſolche Geburtshuͤlfe geben moͤchte. — Urſache genug
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 2. Leipzig, 1820, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie02_1820/315>, abgerufen am 23.11.2024.
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