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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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20. Sülejman der II
men. Keiner aber unter den türkischen Sultanen hat sich wegen seiner Heilig-
keit, Andacht und genauen Beobachtung des Gesetzes 29 einen solchen Ruhm
erworben, als er.

[Spaltenumbruch]
glück haben, verbannet oder um das Leben
gebracht zu werden: so muß sie der Sultan
als Paschen mit dreyen Tug in eine Land-
schaft schicken; und aus dieser Ursache wer-
den dieselben im voraus Weßirleri genennet.
Der Kißlar Aga genoß ehedem eben diesen
Vorzug: er wurde ihm aber nach der Zeit
genommen; weil es unanständig zu seyn
schiene, daß einer, dem die Zeichen der Mann-
heit mangeln, Männern zu befehlen haben
sollte. Nachdem diese obersten Hofbedienten
von dem Hofe weggekommen sind: so wer-
den dieselben, ungeachtet sie in ihrer Pascha-
schaft eben so große Gewalt, als andere, ha-
ben, dennoch durchgehends von den Aegäwat
(das ist, denjenigen, die sich durch andere
Mittel, nämlich durch ihre Tapferkeit und
Geschicklichkeit, zu dergleichen Würde empor
geschwungen haben) verächtlich gehalten und
von ihnen Dscheleb genennet. Dieses Wort
heißet in der türkischen Sprache eigentlich ei-
nen Hirten oder Viehtreiber; wenn es aber
von den Hofbedienten gebrauchet wird: so
scheinet es so viel zu bedeuten, daß diese Leute,
weil sie in bürgerlichen und Kriegssachen keine
Erfahrung haben, weiter zu nichts geschickt
wären, als ihre Soldaten wie das Vieh vor
sich her zu treiben, auf die Art, wie sie von
andern darinnen überredet und geleitet wür-
den. Dieser verblümte Verstand ist auch so
gemein geworden, daß das Wort darüber
seine eigentliche Bedeutung verloren zu haben
scheinet: so gar, daß selbst der oberste Weßir,
wann er aus einem Hofbedienten zu dieser
Würde gelanget ist, es nicht für eine Be-
schimpfung aufnehmen oder iemanden des-
wegen strafen kann, wenn er fraget, so daß
[Spaltenumbruch]
er es in seine Ohren höret; ob dieser ein
Dscheleb oder einer von den Aegäwat sey?
Denn weil es bey diesem Volke fast unmög-
lich ist, eine alte Gewohnheit auszurotten:
so ertragen die Großen in der Türkey die Be-
schimpfungen und Vorwürfe ihrer Landesleute
mit mehrerer Gelassenheit. Wie es dann
ganz etwas gemeines ist, daß man das Volk
in den Böten, wann es eben erst aus des
Weßirs Diwan gekommen ist, über den Weßir
und manchmal über den Sultan selbst, auf
die allerschimpflichste Weise spotten und lä-
stern höret, ohne daß es deswegen zur Ver-
antwortung gezogen wird.
29 Beobachtung des Gesetzes] Die-
ses waren die Eigenschaften, die diesen Sul-
tan auf den Thron seines Bruders erhoben;
denn weiter hatte er nichts an sich, dadurch
er sich den Türken anpreisen konnte. Er hat-
te diesen hohen Grad eines abergläubischen
Eifers für sein Gesetz und diesen Ruf der
Heiligkeit dadurch erlanget, daß er sich sehr
stark auf sein Studieren legte, das derselbe
während seines Bruders Regierung mit gan-
zem Eifer triebe: und damit war Muhämmed
sehr wohl zufrieden, weil er hoffete, dieses
werde alles Verlangen zur Regierung in ihm
ersticken; denn ein Gemüth, das der Ge-
lehrtheit ergeben sey, werde nimmermehr auf
Anschläge sinnen, auf den Thron zu gelan-
gen. In der That haben die Türken keinen
Sultan gehabt, dessen Heiligkeit sie so sehr
erheben, als dieses Herrn seine. Sie schrei-
ben ihm auch einige Wunderwerke zu, und
unter andern dieses. Man hatte ihn kaum
auf den Thron gesetzet: so sprang er alsobald
Geschichte

20. Suͤlejman der II
men. Keiner aber unter den tuͤrkiſchen Sultanen hat ſich wegen ſeiner Heilig-
keit, Andacht und genauen Beobachtung des Geſetzes 29 einen ſolchen Ruhm
erworben, als er.

[Spaltenumbruch]
gluͤck haben, verbannet oder um das Leben
gebracht zu werden: ſo muß ſie der Sultan
als Paſchen mit dreyen Tug in eine Land-
ſchaft ſchicken; und aus dieſer Urſache wer-
den dieſelben im voraus Weßirleri genennet.
Der Kißlar Aga genoß ehedem eben dieſen
Vorzug: er wurde ihm aber nach der Zeit
genommen; weil es unanſtaͤndig zu ſeyn
ſchiene, daß einer, dem die Zeichen der Mann-
heit mangeln, Maͤnnern zu befehlen haben
ſollte. Nachdem dieſe oberſten Hofbedienten
von dem Hofe weggekommen ſind: ſo wer-
den dieſelben, ungeachtet ſie in ihrer Paſcha-
ſchaft eben ſo große Gewalt, als andere, ha-
ben, dennoch durchgehends von den Aegaͤwat
(das iſt, denjenigen, die ſich durch andere
Mittel, naͤmlich durch ihre Tapferkeit und
Geſchicklichkeit, zu dergleichen Wuͤrde empor
geſchwungen haben) veraͤchtlich gehalten und
von ihnen Dſcheleb genennet. Dieſes Wort
heißet in der tuͤrkiſchen Sprache eigentlich ei-
nen Hirten oder Viehtreiber; wenn es aber
von den Hofbedienten gebrauchet wird: ſo
ſcheinet es ſo viel zu bedeuten, daß dieſe Leute,
weil ſie in buͤrgerlichen und Kriegsſachen keine
Erfahrung haben, weiter zu nichts geſchickt
waͤren, als ihre Soldaten wie das Vieh vor
ſich her zu treiben, auf die Art, wie ſie von
andern darinnen uͤberredet und geleitet wuͤr-
den. Dieſer verbluͤmte Verſtand iſt auch ſo
gemein geworden, daß das Wort daruͤber
ſeine eigentliche Bedeutung verloren zu haben
ſcheinet: ſo gar, daß ſelbſt der oberſte Weßir,
wann er aus einem Hofbedienten zu dieſer
Wuͤrde gelanget iſt, es nicht fuͤr eine Be-
ſchimpfung aufnehmen oder iemanden des-
wegen ſtrafen kann, wenn er fraget, ſo daß
[Spaltenumbruch]
er es in ſeine Ohren hoͤret; ob dieſer ein
Dſcheleb oder einer von den Aegaͤwat ſey?
Denn weil es bey dieſem Volke faſt unmoͤg-
lich iſt, eine alte Gewohnheit auszurotten:
ſo ertragen die Großen in der Tuͤrkey die Be-
ſchimpfungen und Vorwuͤrfe ihrer Landesleute
mit mehrerer Gelaſſenheit. Wie es dann
ganz etwas gemeines iſt, daß man das Volk
in den Boͤten, wann es eben erſt aus des
Weßirs Diwan gekommen iſt, uͤber den Weßir
und manchmal uͤber den Sultan ſelbſt, auf
die allerſchimpflichſte Weiſe ſpotten und laͤ-
ſtern hoͤret, ohne daß es deswegen zur Ver-
antwortung gezogen wird.
29 Beobachtung des Geſetzes] Die-
ſes waren die Eigenſchaften, die dieſen Sul-
tan auf den Thron ſeines Bruders erhoben;
denn weiter hatte er nichts an ſich, dadurch
er ſich den Tuͤrken anpreiſen konnte. Er hat-
te dieſen hohen Grad eines aberglaͤubiſchen
Eifers fuͤr ſein Geſetz und dieſen Ruf der
Heiligkeit dadurch erlanget, daß er ſich ſehr
ſtark auf ſein Studieren legte, das derſelbe
waͤhrend ſeines Bruders Regierung mit gan-
zem Eifer triebe: und damit war Muhaͤmmed
ſehr wohl zufrieden, weil er hoffete, dieſes
werde alles Verlangen zur Regierung in ihm
erſticken; denn ein Gemuͤth, das der Ge-
lehrtheit ergeben ſey, werde nimmermehr auf
Anſchlaͤge ſinnen, auf den Thron zu gelan-
gen. In der That haben die Tuͤrken keinen
Sultan gehabt, deſſen Heiligkeit ſie ſo ſehr
erheben, als dieſes Herrn ſeine. Sie ſchrei-
ben ihm auch einige Wunderwerke zu, und
unter andern dieſes. Man hatte ihn kaum
auf den Thron geſetzet: ſo ſprang er alſobald
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[615/0725] 20. Suͤlejman der II men. Keiner aber unter den tuͤrkiſchen Sultanen hat ſich wegen ſeiner Heilig- keit, Andacht und genauen Beobachtung des Geſetzes ²⁹ einen ſolchen Ruhm erworben, als er. Geſchichte gluͤck haben, verbannet oder um das Leben gebracht zu werden: ſo muß ſie der Sultan als Paſchen mit dreyen Tug in eine Land- ſchaft ſchicken; und aus dieſer Urſache wer- den dieſelben im voraus Weßirleri genennet. Der Kißlar Aga genoß ehedem eben dieſen Vorzug: er wurde ihm aber nach der Zeit genommen; weil es unanſtaͤndig zu ſeyn ſchiene, daß einer, dem die Zeichen der Mann- heit mangeln, Maͤnnern zu befehlen haben ſollte. Nachdem dieſe oberſten Hofbedienten von dem Hofe weggekommen ſind: ſo wer- den dieſelben, ungeachtet ſie in ihrer Paſcha- ſchaft eben ſo große Gewalt, als andere, ha- ben, dennoch durchgehends von den Aegaͤwat (das iſt, denjenigen, die ſich durch andere Mittel, naͤmlich durch ihre Tapferkeit und Geſchicklichkeit, zu dergleichen Wuͤrde empor geſchwungen haben) veraͤchtlich gehalten und von ihnen Dſcheleb genennet. Dieſes Wort heißet in der tuͤrkiſchen Sprache eigentlich ei- nen Hirten oder Viehtreiber; wenn es aber von den Hofbedienten gebrauchet wird: ſo ſcheinet es ſo viel zu bedeuten, daß dieſe Leute, weil ſie in buͤrgerlichen und Kriegsſachen keine Erfahrung haben, weiter zu nichts geſchickt waͤren, als ihre Soldaten wie das Vieh vor ſich her zu treiben, auf die Art, wie ſie von andern darinnen uͤberredet und geleitet wuͤr- den. Dieſer verbluͤmte Verſtand iſt auch ſo gemein geworden, daß das Wort daruͤber ſeine eigentliche Bedeutung verloren zu haben ſcheinet: ſo gar, daß ſelbſt der oberſte Weßir, wann er aus einem Hofbedienten zu dieſer Wuͤrde gelanget iſt, es nicht fuͤr eine Be- ſchimpfung aufnehmen oder iemanden des- wegen ſtrafen kann, wenn er fraget, ſo daß er es in ſeine Ohren hoͤret; ob dieſer ein Dſcheleb oder einer von den Aegaͤwat ſey? Denn weil es bey dieſem Volke faſt unmoͤg- lich iſt, eine alte Gewohnheit auszurotten: ſo ertragen die Großen in der Tuͤrkey die Be- ſchimpfungen und Vorwuͤrfe ihrer Landesleute mit mehrerer Gelaſſenheit. Wie es dann ganz etwas gemeines iſt, daß man das Volk in den Boͤten, wann es eben erſt aus des Weßirs Diwan gekommen iſt, uͤber den Weßir und manchmal uͤber den Sultan ſelbſt, auf die allerſchimpflichſte Weiſe ſpotten und laͤ- ſtern hoͤret, ohne daß es deswegen zur Ver- antwortung gezogen wird. ²⁹ Beobachtung des Geſetzes] Die- ſes waren die Eigenſchaften, die dieſen Sul- tan auf den Thron ſeines Bruders erhoben; denn weiter hatte er nichts an ſich, dadurch er ſich den Tuͤrken anpreiſen konnte. Er hat- te dieſen hohen Grad eines aberglaͤubiſchen Eifers fuͤr ſein Geſetz und dieſen Ruf der Heiligkeit dadurch erlanget, daß er ſich ſehr ſtark auf ſein Studieren legte, das derſelbe waͤhrend ſeines Bruders Regierung mit gan- zem Eifer triebe: und damit war Muhaͤmmed ſehr wohl zufrieden, weil er hoffete, dieſes werde alles Verlangen zur Regierung in ihm erſticken; denn ein Gemuͤth, das der Ge- lehrtheit ergeben ſey, werde nimmermehr auf Anſchlaͤge ſinnen, auf den Thron zu gelan- gen. In der That haben die Tuͤrken keinen Sultan gehabt, deſſen Heiligkeit ſie ſo ſehr erheben, als dieſes Herrn ſeine. Sie ſchrei- ben ihm auch einige Wunderwerke zu, und unter andern dieſes. Man hatte ihn kaum auf den Thron geſetzet: ſo ſprang er alſobald wieder

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/725>, abgerufen am 23.11.2024.