Es gibt Grazien der Seele, so wie des Kör- pers; die erstern geben dem Gedanken und dem Ausdruk, die leztern den Bewegungen, Stel- lungen und der ganzen Art sich zu zeigen eine gefällige Gestalt. Es hat sie vielleicht nie ein Mensch alle auf einmahl besessen; ein solcher würde zu glüklich sein. Wenn du aber auf die einnehmenden und gefälligen Manieren, die dir an andern am meisten gefallen, sorgfältig merkst, so wirst du leicht den Schluß machen, was an- dern an dir gefallen könne; du wirst den größten Theil dieser Göttinnen auf deine Seite bringen, wirst dich der Mehrheit der Stimmen versichern, und für einen liebenswürdigen jungen Man er- klärt werden. Es gibt Leute, welche Moliere's Prezieuse sehr richtig, obgleich sehr affektirt, die Antipoden der Grazien nent; wenn die Natur diese unglüklichen Leute mißfällig, plump und widrig gebildet hat, so muß man Mitleid mit ihnen haben, und nicht sie tadeln oder gar be- lachen. Aber die Natur hat wirklich wenig Menschen so sehr enterbt.
(Man
Es gibt Grazien der Seele, ſo wie des Koͤr- pers; die erſtern geben dem Gedanken und dem Ausdruk, die leztern den Bewegungen, Stel- lungen und der ganzen Art ſich zu zeigen eine gefaͤllige Geſtalt. Es hat ſie vielleicht nie ein Menſch alle auf einmahl beſeſſen; ein ſolcher wuͤrde zu gluͤklich ſein. Wenn du aber auf die einnehmenden und gefaͤlligen Manieren, die dir an andern am meiſten gefallen, ſorgfaͤltig merkſt, ſo wirſt du leicht den Schluß machen, was an- dern an dir gefallen koͤnne; du wirſt den groͤßten Theil dieſer Goͤttinnen auf deine Seite bringen, wirſt dich der Mehrheit der Stimmen verſichern, und fuͤr einen liebenswuͤrdigen jungen Man er- klaͤrt werden. Es gibt Leute, welche Moliere’s Prezieuſe ſehr richtig, obgleich ſehr affektirt, die Antipoden der Grazien nent; wenn die Natur dieſe ungluͤklichen Leute mißfaͤllig, plump und widrig gebildet hat, ſo muß man Mitleid mit ihnen haben, und nicht ſie tadeln oder gar be- lachen. Aber die Natur hat wirklich wenig Menſchen ſo ſehr enterbt.
(Man
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Es gibt Grazien der Seele, ſo wie des Koͤr-
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Ausdruk, die leztern den Bewegungen, Stel-
lungen und der ganzen Art ſich zu zeigen eine
gefaͤllige Geſtalt. Es hat ſie vielleicht nie ein
Menſch alle auf einmahl beſeſſen; ein ſolcher
wuͤrde zu gluͤklich ſein. Wenn du aber auf die
einnehmenden und gefaͤlligen Manieren, die dir
an andern am meiſten gefallen, ſorgfaͤltig merkſt,
ſo wirſt du leicht den Schluß machen, was an-
dern an dir gefallen koͤnne; du wirſt den groͤßten
Theil dieſer Goͤttinnen auf deine Seite bringen,
wirſt dich der Mehrheit der Stimmen verſichern,
und fuͤr einen liebenswuͤrdigen jungen Man er-
klaͤrt werden. Es gibt Leute, welche Moliere’s
Prezieuſe ſehr richtig, obgleich ſehr affektirt, die
Antipoden der Grazien nent; wenn die Natur
dieſe ungluͤklichen Leute mißfaͤllig, plump und
widrig gebildet hat, ſo muß man Mitleid mit
ihnen haben, und nicht ſie tadeln oder gar be-
lachen. Aber die Natur hat wirklich wenig
Menſchen ſo ſehr enterbt.
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/69>, abgerufen am 27.07.2024.
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