ich mich erkühnt habe, für mich selbst zu den- ken. Bis auf das sechszehnte oder siebzehnte Jahr hatte ich gar kein Nachdenken; und viele Jahre hernach bediente ich mich dessen nicht, das ich hatte. Ich nahm die Begriffe der Bücher an, die ich las, oder der Geselschaft, die ich hielt, ohne zu untersuchen, ob sie richtig wären, oder nicht. Lieber wolt' ich es auf einen leichten Ir- thum wagen, als mir Zeit und Mühe zur Unter- suchung der Wahrheit nehmen.
Solchergestalt ward ich, wie ich seitdem ge- funden habe, theils aus Faulheit, theils aus Zerstreuung, theils aus übel verstandner Schaam, der Mode gemäße Begriffe zu verwerfen, durch Vorurtheile hingerissen, anstat von der Vernunft geleitet zu werden. Anstat Wahrheit aufzusuchen, unterhielt ich ruhig den Irthum.
Seit ich mir aber die Mühe nahm, für mich selbst zu denken, und das Herz faßte, zu geste- hen, daß ich das thäte, kanst du dir nicht vor- stellen, wie sehr meine Begriffe von Dingen sich geändert haben, aus welchen verschiednen Ge- sichtspunkten ich sie jezt betrachte, da ich sie vorher
blos
ich mich erkuͤhnt habe, fuͤr mich ſelbſt zu den- ken. Bis auf das ſechszehnte oder ſiebzehnte Jahr hatte ich gar kein Nachdenken; und viele Jahre hernach bediente ich mich deſſen nicht, das ich hatte. Ich nahm die Begriffe der Buͤcher an, die ich las, oder der Geſelſchaft, die ich hielt, ohne zu unterſuchen, ob ſie richtig waͤren, oder nicht. Lieber wolt’ ich es auf einen leichten Ir- thum wagen, als mir Zeit und Muͤhe zur Unter- ſuchung der Wahrheit nehmen.
Solchergeſtalt ward ich, wie ich ſeitdem ge- funden habe, theils aus Faulheit, theils aus Zerſtreuung, theils aus uͤbel verſtandner Schaam, der Mode gemaͤße Begriffe zu verwerfen, durch Vorurtheile hingeriſſen, anſtat von der Vernunft geleitet zu werden. Anſtat Wahrheit aufzuſuchen, unterhielt ich ruhig den Irthum.
Seit ich mir aber die Muͤhe nahm, fuͤr mich ſelbſt zu denken, und das Herz faßte, zu geſte- hen, daß ich das thaͤte, kanſt du dir nicht vor- ſtellen, wie ſehr meine Begriffe von Dingen ſich geaͤndert haben, aus welchen verſchiednen Ge- ſichtspunkten ich ſie jezt betrachte, da ich ſie vorher
blos
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ich mich erkuͤhnt habe, fuͤr mich ſelbſt zu den-
ken. Bis auf das ſechszehnte oder ſiebzehnte
Jahr hatte ich gar kein Nachdenken; und viele
Jahre hernach bediente ich mich deſſen nicht, das
ich hatte. Ich nahm die Begriffe der Buͤcher
an, die ich las, oder der Geſelſchaft, die ich hielt,
ohne zu unterſuchen, ob ſie richtig waͤren, oder
nicht. Lieber wolt’ ich es auf einen leichten Ir-
thum wagen, als mir Zeit und Muͤhe zur Unter-
ſuchung der Wahrheit nehmen.
Solchergeſtalt ward ich, wie ich ſeitdem ge-
funden habe, theils aus Faulheit, theils aus
Zerſtreuung, theils aus uͤbel verſtandner Schaam,
der Mode gemaͤße Begriffe zu verwerfen, durch
Vorurtheile hingeriſſen, anſtat von der Vernunft
geleitet zu werden. Anſtat Wahrheit aufzuſuchen,
unterhielt ich ruhig den Irthum.
Seit ich mir aber die Muͤhe nahm, fuͤr mich
ſelbſt zu denken, und das Herz faßte, zu geſte-
hen, daß ich das thaͤte, kanſt du dir nicht vor-
ſtellen, wie ſehr meine Begriffe von Dingen ſich
geaͤndert haben, aus welchen verſchiednen Ge-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/148>, abgerufen am 27.07.2024.
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