und durch den algemeinen fortreissenden Drang nach Befriedigung derselben, ge- worden sind. Und was sind sie denn nun da- durch geworden? Sohn! mit Zittern ergreif' ich den Pinsel, um dir ein Gemählde von meinen und deinen Brüdern zu entwerfen, wovor deine junge arglose Sele schaudernd zurükbeben wird. Ich habe die Züge dazu theils von mir selbst, theils von den Tausenden meiner Zeitgenossen entlehnt, die ich in den verschiedenen Lagen meines Lebens etwas genauer, als gewöhnlich, kennen zu lernen Gelegenheit und Veranlassung hatte: urtheile nun, nach diesem Geständniß, welches ich laut vor aller Welt ablegen mögte, weil ich mir zugleich einer aufrichtigen Reue über meine eigenen Verwöh- nungen und des möglichsten Bestrebens, mich täglich mehr und mehr davon frei zu machen, be- wußt bin -- urtheile, sag' ich, selbst, ob ich Ursache haben könne, die Farben stärker aufzu- tragen, als ich sie in der Natur gefunden zu ha- ben glaube? Aber vernim erst, was ich, zur Steuer der Wahrheit, und um nicht mißverstan- den zu werden, voraussagen muß.
Erstlich
und durch den algemeinen fortreiſſenden Drang nach Befriedigung derſelben, ge- worden ſind. Und was ſind ſie denn nun da- durch geworden? Sohn! mit Zittern ergreif’ ich den Pinſel, um dir ein Gemaͤhlde von meinen und deinen Bruͤdern zu entwerfen, wovor deine junge argloſe Sele ſchaudernd zuruͤkbeben wird. Ich habe die Zuͤge dazu theils von mir ſelbſt, theils von den Tauſenden meiner Zeitgenoſſen entlehnt, die ich in den verſchiedenen Lagen meines Lebens etwas genauer, als gewoͤhnlich, kennen zu lernen Gelegenheit und Veranlaſſung hatte: urtheile nun, nach dieſem Geſtaͤndniß, welches ich laut vor aller Welt ablegen moͤgte, weil ich mir zugleich einer aufrichtigen Reue uͤber meine eigenen Verwoͤh- nungen und des moͤglichſten Beſtrebens, mich taͤglich mehr und mehr davon frei zu machen, be- wußt bin — urtheile, ſag’ ich, ſelbſt, ob ich Urſache haben koͤnne, die Farben ſtaͤrker aufzu- tragen, als ich ſie in der Natur gefunden zu ha- ben glaube? Aber vernim erſt, was ich, zur Steuer der Wahrheit, und um nicht mißverſtan- den zu werden, vorausſagen muß.
Erſtlich
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und durch den algemeinen fortreiſſenden
Drang nach Befriedigung derſelben, ge-
worden ſind. Und was ſind ſie denn nun da-
durch geworden? Sohn! mit Zittern ergreif’ ich
den Pinſel, um dir ein Gemaͤhlde von meinen und
deinen Bruͤdern zu entwerfen, wovor deine junge
argloſe Sele ſchaudernd zuruͤkbeben wird. Ich
habe die Zuͤge dazu theils von mir ſelbſt, theils
von den Tauſenden meiner Zeitgenoſſen entlehnt,
die ich in den verſchiedenen Lagen meines Lebens
etwas genauer, als gewoͤhnlich, kennen zu lernen
Gelegenheit und Veranlaſſung hatte: urtheile nun,
nach dieſem Geſtaͤndniß, welches ich laut vor aller
Welt ablegen moͤgte, weil ich mir zugleich einer
aufrichtigen Reue uͤber meine eigenen Verwoͤh-
nungen und des moͤglichſten Beſtrebens, mich
taͤglich mehr und mehr davon frei zu machen, be-
wußt bin — urtheile, ſag’ ich, ſelbſt, ob ich
Urſache haben koͤnne, die Farben ſtaͤrker aufzu-
tragen, als ich ſie in der Natur gefunden zu ha-
ben glaube? Aber vernim erſt, was ich, zur
Steuer der Wahrheit, und um nicht mißverſtan-
den zu werden, vorausſagen muß.
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/132>, abgerufen am 24.11.2024.
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