Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Es ist das Schicksal der Späteren, und wir - heute - Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am "Zeichen" sind es auch, und nichts anderes, was wir heute Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden Wie wichtig ist doch die "Terz", die "Quinte" und die Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent- der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute – Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am „Zeichen“ sind es auch, und nichts anderes, was wir heute Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden Wie wichtig ist doch die „Terz“, die „Quinte“ und die Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent- <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0036" n="36"/> der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die<lb/> Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren<lb/> und wie der Orden entweiht wird …</p><lb/> <p>Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute –<lb/> sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.</p><lb/> <p>Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am<lb/> nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große<lb/> Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Aus-<lb/> druckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu<lb/> verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen,<lb/> in dieser Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen, als der<lb/> bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.</p><lb/> <p>„Zeichen“ sind es auch, und nichts anderes, was wir heute<lb/> unser „Tonsystem“ nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas<lb/> von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche<lb/> Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches<lb/> Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen<lb/> über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund<lb/> aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal<lb/> stärkeren Mittagssonnenschein. –</p><lb/> <p>Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden<lb/> als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können.</p><lb/> <p>Wie wichtig ist doch die „Terz“, die „Quinte“ und die<lb/> „Oktave“. Wie streng unterscheiden wir „Konsonanzen“<lb/> und „Dissonanzen“ – da, wo es überhaupt Dissonanzen<lb/> nicht geben kann!</p><lb/> <p>Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent-<lb/> fernte Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen<lb/> mußten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, daß<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [36/0036]
der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die
Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren
und wie der Orden entweiht wird …
Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute –
sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.
Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am
nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große
Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Aus-
druckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu
verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen,
in dieser Umgebung selbst Musik, läßt weiter ahnen, als der
bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.
„Zeichen“ sind es auch, und nichts anderes, was wir heute
unser „Tonsystem“ nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas
von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche
Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches
Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen
über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund
aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal
stärkeren Mittagssonnenschein. –
Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden
als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können.
Wie wichtig ist doch die „Terz“, die „Quinte“ und die
„Oktave“. Wie streng unterscheiden wir „Konsonanzen“
und „Dissonanzen“ – da, wo es überhaupt Dissonanzen
nicht geben kann!
Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent-
fernte Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen
mußten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, daß
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Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/36>, abgerufen am 16.02.2025. |