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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß
die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten
scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu-
dium der Partituren. Wenn "Schaffen", wie ich es de-
finierte, ein "Formen aus dem Nichts" bedeuten soll (und es
kann nichts anderes bedeuten); - wenn Musik - (dieses
habe ich jedenfalls ausgesprochen) - zur "Originalität",
nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll
(ein "Zurück", das das eigentliche "Vorwärts" sein muß);
- wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch-
tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
- diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu-
nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge-
kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen-
den mitfesseln.

Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen-
tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,
die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer
Beschränkung liegt; 1 dazu gesellt sich die Manieriertheit
der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen-
tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der

niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der
"fünften" ein anderes als jenes, womit die "zweite" ihr Allegro ansagt?
Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? -
1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen "mo-
dernen" Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen "Po-
saunensatz" geprägt hat, der - seit ihm - in den Partituren ständige
Wohnung nahm.

Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß
die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten
scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu-
dium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es de-
finierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es
kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses
habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“,
nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll
(ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muß);
– wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch-
tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll;
– diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu-
nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang,
ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge-
kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen-
den mitfesseln.

Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten
sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen
der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen-
tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen,
die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer
Beschränkung liegt; 1 dazu gesellt sich die Manieriertheit
der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen-
tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der

niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der
„fünften“ ein anderes als jenes, womit die „zweite“ ihr Allegro ansagt?
Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? –
1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen „mo-
dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente
nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen „Po-
saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige
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[34/0034] Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu- dium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es de- finierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“, nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll (ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muß); – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch- tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll; – diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu- nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge- kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen- den mitfesseln. Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen- tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung liegt; 1 dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen- tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der 1 1 Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daß er von allen „mo- dernen“ Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daß Wagner einen „Po- saunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige Wohnung nahm. 1 niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finale der „fünften“ ein anderes als jenes, womit die „zweite“ ihr Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? –

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/34>, abgerufen am 23.04.2024.