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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand,
der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner
ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu
lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es
ohne Bitterkeit behauptet.

Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die
richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, in-
sofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich
selbst abspricht und vorbeugt, daß andere sie ihm zuerkennen.
Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt.
Er ist tatsächlich unglücklich, daß die Komposition stockt,
tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß sein Genie
über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich ein-
gesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zuge-
hörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben.

Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit
des Erhaltungstriebes - beweist uns aber (und das ist
unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen.

So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
Ausdrucksform, daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv
gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßte, so
daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte.
Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren 1, enthalte
ich mich jedes Beispiels.

1 Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken
nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Sym-
phonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünf-
zehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche

maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand,
der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner
ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu
lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es
ohne Bitterkeit behauptet.

Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die
richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, in-
sofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich
selbst abspricht und vorbeugt, daß andere sie ihm zuerkennen.
Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt.
Er ist tatsächlich unglücklich, daß die Komposition stockt,
tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß sein Genie
über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich
kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich ein-
gesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zuge-
hörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben.

Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit
des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist
unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen.

So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine
Ausdrucksform, daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv
gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßte, so
daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte.
Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren 1, enthalte
ich mich jedes Beispiels.

1 Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um
scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken
nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Sym-
phonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünf-
zehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche
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[33/0033] maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne Bitterkeit behauptet. Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, in- sofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, daß andere sie ihm zuerkennen. Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt. Er ist tatsächlich unglücklich, daß die Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß sein Genie über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich ein- gesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zuge- hörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben. Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen. So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform, daß es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßte, so daß es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren 1, enthalte ich mich jedes Beispiels. 1 Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Sym- phonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünf- zehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/33>, abgerufen am 26.04.2024.