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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus-
übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten-
los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und
verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
gedeiht im Nachbilden. Sie ist die "Poesie, die sich komman-
dieren läßt"
. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
und fühlet!

Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther
und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so
bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn-
stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
warten darauf, sich zu offenbaren!

"Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,"
schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
des "Tristan" nicht vorwärts wollte.

Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an-
deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-

Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus-
übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme
wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten-
los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und
verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich komman-
dieren läßt“
. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
und fühlet!

Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther
und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so
bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn-
stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
warten darauf, sich zu offenbaren!

„Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“
schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
des „Tristan“ nicht vorwärts wollte.

Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an-
deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-

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[32/0032] Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus- übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten- los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich komman- dieren läßt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet! Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn- stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren! „Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“ schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des „Tristan“ nicht vorwärts wollte. Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an- deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/32>, abgerufen am 21.11.2024.