Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus- übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten- los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im Nachbilden. Sie ist die "Poesie, die sich komman- dieren läßt". Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet!
Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn- stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren!
"Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe," schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des "Tristan" nicht vorwärts wollte. Der von Busoni frei zitierte Brief Richard Wagners an Franz Liszt datiert vom 8. Mai 1859; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe Wagner-Liszt 1900 (II:248 f.) lautet die betreffende Passage im Kontext: "Da heißt's denn nun: "Mach' den Tristan fertig, dann wollen wir sehen!" - Das ist recht schön. Wie aber, wenn ich den Tristan nun nicht fertig machte, weil ich ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem - Ziele (?) - endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt's denn - nun, arbeite nur, dann wird's schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so ganz und gar keine Routine, und wenn's nicht von selbst geht, kann ich eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß ich eben arbeiten kann? - Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du zuviel hast!"
Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an- deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-
Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus- übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten- los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich komman- dieren läßt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet!
Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn- stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren!
„Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“ schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des „Tristan“ nicht vorwärts wollte. Der von Busoni frei zitierte Brief Richard Wagners an Franz Liszt datiert vom 8. Mai 1859; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe Wagner–Liszt 1900 (II:248 f.) lautet die betreffende Passage im Kontext: „Da heißt’s denn nun: „Mach’ den Tristan fertig, dann wollen wir sehen!„ – Das ist recht schön. Wie aber, wenn ich den Tristan nun nicht fertig machte, weil ich ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem – Ziele (?) – endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt’s denn – nun, arbeite nur, dann wird’s schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß ich eben arbeiten kann? – Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du zuviel hast!“
Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an- deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-
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Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle
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wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und taten-
los davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und
verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst
um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn
Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber
gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich komman-
dieren läßt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht
sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht.
Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal,
als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt
und fühlet!
Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden,
sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther
und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden.
Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen
Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand;
meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure
Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so
bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehn-
stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift.
Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und
warten darauf, sich zu offenbaren!
„Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“
schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition
des „Tristan“ nicht vorwärts wollte.
Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an-
deren. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositions-
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
Druckfehler: dokumentiert;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert;
langes s (ſ): als s transkribiert;
Normalisierungen: keine;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/32>, abgerufen am 16.07.2024.
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