Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das "Musikali- Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als "musi- In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musika- Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa- 1
"Diese Kompositionen sind aber so musikalisch", sagte mir einmal ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend fand. teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das „Musikali- Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als „musi- In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musika- Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa- 1
„Diese Kompositionen sind aber so musikalisch“, sagte mir einmal ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend fand. <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0026" n="26"/> teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das „Musikali-<lb/> sche“ von höchster Bedeutung geworden. – Demnach müßte<lb/> ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist<lb/> musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit „Technik“<lb/> nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,<lb/> so hat man „technisch“ und „musikalisch“ zu Gegensätzen ge-<lb/> macht.</p><lb/> <p>Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als „musi-<lb/> kalisch“ zu bezeichnen <note place="foot" n="1"><p><quote>„Diese Kompositionen sind aber so musikalisch“</quote>, sagte mir einmal<lb/> ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend<lb/> fand.</p><lb/></note>, oder gar von einem großen Kom-<lb/> ponisten wie <persName>Berlioz</persName> zu behaupten, er wäre es nicht in ge-<lb/> nügendem Maße. „Unmusikalisch“ ist der stärkste Tadel;<lb/> er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum<lb/> Geächteten.</p><lb/> <p>In einem Lande wie <placeName>Italien</placeName>, wo der Sinn für musika-<lb/> lische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung über-<lb/> flüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vor-<lb/> handen. In <placeName>Frankreich</placeName>, wo die Empfindung für Musik<lb/> nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von<lb/> den übrigen einige <q>» <foreign xml:lang="fr"><hi rendition="#aq">aiment beaucoup la musique</hi></foreign> «</q>, oder<lb/><q>»  <foreign xml:lang="fr"><hi rendition="#aq">ils ne l’aiment pas</hi></foreign> «</q>. Nur in <placeName>Deutschland</placeName> macht man eine<lb/> Ehrensache daraus, „musikalisch“ zu sein, das heißt, nicht<lb/> nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie<lb/> in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren<lb/> Gesetze einzuhalten.</p><lb/> <p>Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa-<lb/> chen wohlmeinend seine Schritte, daß es nicht auffliege<lb/> und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [26/0026]
teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das „Musikali-
sche“ von höchster Bedeutung geworden. – Demnach müßte
ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist
musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit „Technik“
nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint,
so hat man „technisch“ und „musikalisch“ zu Gegensätzen ge-
macht.
Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als „musi-
kalisch“ zu bezeichnen 1, oder gar von einem großen Kom-
ponisten wie Berlioz zu behaupten, er wäre es nicht in ge-
nügendem Maße. „Unmusikalisch“ ist der stärkste Tadel;
er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum
Geächteten.
In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musika-
lische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung über-
flüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vor-
handen. In Frankreich, wo die Empfindung für Musik
nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von
den übrigen einige » aiment beaucoup la musique «, oder
» ils ne l’aiment pas «. Nur in Deutschland macht man eine
Ehrensache daraus, „musikalisch“ zu sein, das heißt, nicht
nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie
in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren
Gesetze einzuhalten.
Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa-
chen wohlmeinend seine Schritte, daß es nicht auffliege
und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es
1 „Diese Kompositionen sind aber so musikalisch“, sagte mir einmal
ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend
fand.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/26 |
Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/26>, abgerufen am 16.07.2024. |