Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand- 1 Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären
die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen. ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand- 1 Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären
die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen. <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0025" n="25"/> ich sage: <persName>Schubert</persName> war einer der musikalischsten Menschen,<lb/> so ist das dasselbe, als ob ich sagte: <persName>Helmholtz</persName> war einer<lb/> der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und<lb/> Intervallen tönt. Ein Schrank kann „musikalisch“ sein,<lb/> wenn er ein „Spielwerk“ enthält. <note place="foot" n="1"><p>Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären<lb/> die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte<lb/> ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn<lb/> berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.</p><lb/></note> Im vergleichenden<lb/> Sinne kann „musikalisch“ allenfalls noch wohllautend be-<lb/> deuten.</p><lb/> <p><quote>„Meine Verse sind zu musikalisch, als daß sie noch in<lb/> Musik gesetzt werden könnten,“</quote> sagte mir einmal ein be-<lb/> kannter Dichter.<lb/><quote><lg type="poem"><l corresp="#DE1" xml:id="EN1" xml:lang="en"><hi rendition="#aq">» Spirits moving musically</hi></l><lb/><l corresp="#DE2" xml:id="EN2" xml:lang="en"><hi rendition="#aq">To a lutes well-tuned law«</hi></l></lg></quote><lb/><quote><lg type="poem"><l corresp="#EN1" xml:id="D1">(„Geister schwebten musikalisch</l><lb/><l corresp="#EN2" xml:id="D2">zu der Laute wohlgestimmtem Satz“)</l></lg></quote><lb/> schreibt <persName>E. A. Poe</persName>; endlich spricht man ganz richtig von<lb/> einem „musikalischen Lachen“, weil es wie Musik klingt.</p><lb/> <p>In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten<lb/> deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,<lb/> der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Tech-<lb/> nische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter<lb/> Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die<lb/> Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die<lb/> Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder<lb/> wiederzugeben versteht, für um so musikalischer wird er ge-<lb/> halten.</p><lb/> <p>Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [25/0025]
ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen,
so ist das dasselbe, als ob ich sagte: Helmholtz war einer
der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und
Intervallen tönt. Ein Schrank kann „musikalisch“ sein,
wenn er ein „Spielwerk“ enthält. 1 Im vergleichenden
Sinne kann „musikalisch“ allenfalls noch wohllautend be-
deuten.
„Meine Verse sind zu musikalisch, als daß sie noch in
Musik gesetzt werden könnten,“ sagte mir einmal ein be-
kannter Dichter.
» Spirits moving musically
To a lutes well-tuned law«
(„Geister schwebten musikalisch
zu der Laute wohlgestimmtem Satz“)
schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von
einem „musikalischen Lachen“, weil es wie Musik klingt.
In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten
deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher,
der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Tech-
nische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter
Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die
Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die
Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder
wiederzugeben versteht, für um so musikalischer wird er ge-
halten.
Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand-
1 Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären
die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte
ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn
berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/25 |
Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/25>, abgerufen am 27.07.2024. |