Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird Gefühl ist eine moralische Ehrensache - wie die Ehrlich- Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz- Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich- Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz- Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0027" n="27"/> ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird<lb/> kommen. Wenn es aufhören wird, „musikalisch“ zu sein.</p><lb/> <p>Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich-<lb/> keit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen<lb/> läßt – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im<lb/> Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Cha-<lb/> raktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestech-<lb/> lichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als<lb/> oberste moralische Qualität gestellt.</p><lb/> <p>Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten:<lb/> Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten<lb/> auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was<lb/> den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was<lb/> übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rühr-<lb/> seligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muß. Und<lb/> vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es<lb/> muß unterstrichen werden, auf daß jeder merke, sehe und<lb/> höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker<lb/> Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daß es auf-<lb/> dringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird<lb/> ausgeschrien, daß es denen, die der Kunst fernstehen, in<lb/> die Ohren dringe; übergoldet, auf daß es den Unbemittelten<lb/> Staunen entreiße.</p><lb/> <p>Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des<lb/> Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist<lb/> jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wert-<lb/> vollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.</p><lb/> <p>Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz-<lb/> lichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks.</p><lb/> <p>Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [27/0027]
ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird
kommen. Wenn es aufhören wird, „musikalisch“ zu sein.
Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich-
keit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen
läßt – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im
Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Cha-
raktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestech-
lichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als
oberste moralische Qualität gestellt.
Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten:
Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten
auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was
den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was
übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rühr-
seligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden muß. Und
vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es
muß unterstrichen werden, auf daß jeder merke, sehe und
höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker
Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daß es auf-
dringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird
ausgeschrien, daß es denen, die der Kunst fernstehen, in
die Ohren dringe; übergoldet, auf daß es den Unbemittelten
Staunen entreiße.
Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des
Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist
jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wert-
vollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.
Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz-
lichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks.
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Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/27>, abgerufen am 16.07.2024. |