Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

Bild:
<< vorherige Seite

"Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung",
wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beet-
hoven
eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt
werden. Sie mögen - wie alles im Weltsystem - nur
einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. -
Ein Kreis im großen Kreise.

Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück.
Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten "absoluten"
Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver-
härtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder
den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und
über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In
Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und
begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hans-
lick
verherrlichte Klang-Tapetenmuster . Anstatt architektoni-
scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und
Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu-
weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene
sich angeschnürt.

Jedes Motiv - so will es mir scheinen - enthält wie
ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen-
samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät-
tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander
abweichend. 1

1 "- - - Beethoven, dont les esquisses thematiques ou elementaires
sont innombrables, mais qui, sitot les themes trouves, semble par cela
meme en avoir etabli tout le developpement -"

Vincent d'Indy in " Cesar Franck."

„Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“,
wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beet-
hoven
eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt
werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur
einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,
daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie
erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. –
Ein Kreis im großen Kreise.

Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück.
Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten „absoluten“
Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver-
härtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder
den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und
über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In
Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und
begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hans-
lick
verherrlichte Klang-Tapetenmuster . Anstatt architektoni-
scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und
Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu-
weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene
sich angeschnürt.

Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie
ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen-
samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät-
tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander
abweichend. 1

1 »– – – Beethoven, dont les esquisses thématiques ou élémentaires
sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés, semble par cela
même en avoir établi tout le développement –«

Vincent d’Indy in „ César Franck.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0013" n="13"/><q>&#x201E;Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung&#x201C;</q>,<lb/>
wie ich einmal von <persName>Mozart</persName> sagte.                     Die Wege, die uns <persName>Beet-<lb/>
hoven</persName> eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt<lb/>
werden. Sie mögen &#x2013; wie alles im Weltsystem &#x2013; nur<lb/>
einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen,<lb/>
daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie<lb/>
erscheint. <persName>Wagners</persName> Kreis überblicken wir vollständig. &#x2013;<lb/>
Ein Kreis im großen Kreise.</p><lb/>
        <p>Der Name <persName>Wagner</persName> führt zur Programmusik zurück.<lb/>
Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten &#x201E;absoluten&#x201C;<lb/>
Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver-<lb/>
härtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder<lb/>
den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und<lb/>
über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In<lb/>
Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und<lb/>
begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von <persName>Hans-<lb/>
lick</persName> verherrlichte Klang-Tapetenmuster                     <note resp="#MF" type="editorial"><persName>Busoni</persName> verweist mit dieser (erst der Fassung von 1916 hinzugefügten) polemischen Formulierung auf <persName>Eduard Hanslicks</persName> musikästhetische Schrift <title type="main">Vom Musikalisch-Schönen</title>. <persName>Hanslick</persName> postuliert darin eine sich ausschließlich in Musik äußernde und den Geist anregende <q>&#x201E;Schönheit&#x201C;</q> als oberstes kompositorisches Prinzip. Besonders die häufig als Formalismus missverstandene Formulierung <cit><quote>&#x201E;Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik&#x201C;</quote><bibl>(1.&#x202F;Auflage, 1854)</bibl></cit> und die mit der zentralen Kategorie der Schönheit einhergehende stilistische Einschränkung mögen bei <persName>Busoni</persName> auf Unwillen gestoßen sein. Das <q>&#x201E;Klang-Tapetenmuster&#x201C;</q> ist als bissige Anspielung auf die bei <persName>Hanslick</persName> als Vorbild für musikalische Schönheit angeführte Form der <q>&#x201E;Arabeske&#x201C;</q> zu verstehen.</note>.                     Anstatt architektoni-<lb/>
scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und<lb/>
Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu-<lb/>
weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene<lb/>
sich angeschnürt.</p><lb/>
        <p>Jedes Motiv &#x2013; so will es mir scheinen &#x2013; enthält wie<lb/>
ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen-<lb/>
samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät-<lb/>
tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander<lb/>
abweichend.                     <note place="foot" n="1"><cit><quote><hi rendition="#aq">»&#x2013; &#x2013; &#x2013; <persName>Beethoven</persName>, dont les esquisses thématiques ou élémentaires<lb/>
sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes <choice><sic>trouves</sic><corr>trouvés</corr></choice>, semble par cela<lb/>
même en avoir établi tout le développement &#x2013;«</hi></quote><lb/><bibl rendition="#et"><author><persName>Vincent d&#x2019;Indy</persName></author> in                                 <title type="main">&#x201E;                                     <persName>César Franck</persName>.&#x201C;</title>                             </bibl></cit></note>                 </p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0013] „Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“, wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beet- hoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen, daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. – Ein Kreis im großen Kreise. Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten „absoluten“ Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver- härtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hans- lick verherrlichte Klang-Tapetenmuster . Anstatt architektoni- scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu- weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt. Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen- samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät- tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend. 1 1 »– – – Beethoven, dont les esquisses thématiques ou élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouvés, semble par cela même en avoir établi tout le développement –« Vincent d’Indy in „ César Franck.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/13
Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/13>, abgerufen am 21.11.2024.