Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über Darum sind Bach und Beethoven 1 als ein Anfang Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks- 1 Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp- findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiß jenen eines "Klassikers" entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein "Meister" im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.) ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über Darum sind Bach und Beethoven 1 als ein Anfang Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks- 1 Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp- findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiß jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein „Meister“ im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.) <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0012" n="12"/> ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über<lb/> seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewun-<lb/> derte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge<lb/> Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un-<lb/> endlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.</p><lb/> <p>Darum sind <persName>Bach</persName> und <persName>Beethoven</persName> <note place="foot" n="1"><p>Als die charakteristischen Merkmale von <persName>Beethovens</persName> Persönlichkeit<lb/> möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp-<lb/> findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und<lb/> eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind<lb/> gewiß jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist <persName>Beethoven</persName><lb/> kein „Meister“ im Sinne <persName>Mozarts</persName> oder des späteren <persName>Wagner</persName>, eben<lb/> weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen<lb/> gewordenen, ist. <ref target="#d11-1916">(Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)</ref> </p><lb/></note> als ein Anfang<lb/> aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossen-<lb/> heiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und<lb/> ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das<lb/> zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die Emp-<lb/> findung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert<lb/> nichts einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen<lb/> ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.</p><lb/> <p>Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks-<lb/> form und ihre Freiheit. <persName>Wagner</persName>, ein germanischer Riese,<lb/> der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die<lb/> Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte<lb/> (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbst-<lb/> geschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine<lb/> Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er<lb/> sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;<lb/> sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß<lb/> sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [12/0012]
ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über
seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewun-
derte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge
Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un-
endlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.
Darum sind Bach und Beethoven 1 als ein Anfang
aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossen-
heiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und
ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das
zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die Emp-
findung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert
nichts einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen
ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.
Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks-
form und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese,
der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die
Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte
(Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbst-
geschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine
Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er
sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte;
sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß
sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.
1 Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit
möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp-
findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und
eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind
gewiß jenen eines „Klassikers“ entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven
kein „Meister“ im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben
weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen
gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)
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(2019-05-15T13:49:52Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei. Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien. Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
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