6. Abschnitt.daß die Seele mit dem Leib vergehe 1). Die Kirche aber wußte recht gut, daß dieser eine Satz, wenn er Boden ge- wänne, ihrer Art von Macht verderblicher werden müßte als alles Manichäer- und Paterinerwesen, weil er ihrer Einmischung in das Schicksal des einzelnen Menschen nach dem Tode allen Werth benahm. Daß sie selber durch die Mittel, welche sie in ihren Kämpfen brauchte, gerade die Begabtesten in Verzweiflung und Unglauben getrieben hatte, gab sie natürlich nicht zu.
Dante's Abscheu gegen Epicur oder gegen das was er für dessen Lehre hielt, war gewiß aufrichtig; der Dichter des Jenseits mußte den Läugner der Unsterblichkeit hassen, und die von Gott weder geschaffene noch geleitete Welt so wie der niedrige Zweck des Daseins, den das System aufzustellen schien, waren dem Wesen Dante's so entgegen- gesetzt als möglich. Sieht man aber näher zu, so haben auch auf ihn gewisse Philosopheme der Alten einen Ein- druck gemacht, vor welchem die biblische Lehre von der Weltlenkung zurücktritt. Oder war es eigene Speculation, Einwirkung der Tagesmeinung, Grauen vor dem die Welt beherrschenden Unrecht, wenn er2) die specielle Vorsehung völlig aufgab? Sein Gott überläßt nämlich das ganze Detail der Weltregierung einem dämonischen Wesen, der Fortuna, welche für nichts als für Veränderung, für das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu sorgen hat und in indifferenter Seligkeit den Jammer der Menschen überhören darf. Dafür hält er aber die sittliche Verant- wortung des Menschen unerbittlich fest: er glaubt an den freien Willen.
Lehre vom freien Willen.Der Populärglaube an den freien Willen herrscht im Abendlande von jeher, wie man denn auch zu allen Zeiten Jeden persönlich für das was er gethan, verantwortlich ge-
1) Man vgl. die bekannte Beweisführung im dritten Buche des Lucretius.
2)Inferno, VII, 67 bis 96.
6. Abſchnitt.daß die Seele mit dem Leib vergehe 1). Die Kirche aber wußte recht gut, daß dieſer eine Satz, wenn er Boden ge- wänne, ihrer Art von Macht verderblicher werden müßte als alles Manichäer- und Paterinerweſen, weil er ihrer Einmiſchung in das Schickſal des einzelnen Menſchen nach dem Tode allen Werth benahm. Daß ſie ſelber durch die Mittel, welche ſie in ihren Kämpfen brauchte, gerade die Begabteſten in Verzweiflung und Unglauben getrieben hatte, gab ſie natürlich nicht zu.
Dante's Abſcheu gegen Epicur oder gegen das was er für deſſen Lehre hielt, war gewiß aufrichtig; der Dichter des Jenſeits mußte den Läugner der Unſterblichkeit haſſen, und die von Gott weder geſchaffene noch geleitete Welt ſo wie der niedrige Zweck des Daſeins, den das Syſtem aufzuſtellen ſchien, waren dem Weſen Dante's ſo entgegen- geſetzt als möglich. Sieht man aber näher zu, ſo haben auch auf ihn gewiſſe Philoſopheme der Alten einen Ein- druck gemacht, vor welchem die bibliſche Lehre von der Weltlenkung zurücktritt. Oder war es eigene Speculation, Einwirkung der Tagesmeinung, Grauen vor dem die Welt beherrſchenden Unrecht, wenn er2) die ſpecielle Vorſehung völlig aufgab? Sein Gott überläßt nämlich das ganze Detail der Weltregierung einem dämoniſchen Weſen, der Fortuna, welche für nichts als für Veränderung, für das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu ſorgen hat und in indifferenter Seligkeit den Jammer der Menſchen überhören darf. Dafür hält er aber die ſittliche Verant- wortung des Menſchen unerbittlich feſt: er glaubt an den freien Willen.
Lehre vom freien Willen.Der Populärglaube an den freien Willen herrſcht im Abendlande von jeher, wie man denn auch zu allen Zeiten Jeden perſönlich für das was er gethan, verantwortlich ge-
1) Man vgl. die bekannte Beweisführung im dritten Buche des Lucretius.
2)Inferno, VII, 67 bis 96.
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daß die Seele mit dem Leib vergehe 1). Die Kirche aber
wußte recht gut, daß dieſer eine Satz, wenn er Boden ge-
wänne, ihrer Art von Macht verderblicher werden müßte
als alles Manichäer- und Paterinerweſen, weil er ihrer
Einmiſchung in das Schickſal des einzelnen Menſchen nach
dem Tode allen Werth benahm. Daß ſie ſelber durch die
Mittel, welche ſie in ihren Kämpfen brauchte, gerade die
Begabteſten in Verzweiflung und Unglauben getrieben hatte,
gab ſie natürlich nicht zu.
6. Abſchnitt.
Dante's Abſcheu gegen Epicur oder gegen das was
er für deſſen Lehre hielt, war gewiß aufrichtig; der Dichter
des Jenſeits mußte den Läugner der Unſterblichkeit haſſen,
und die von Gott weder geſchaffene noch geleitete Welt
ſo wie der niedrige Zweck des Daſeins, den das Syſtem
aufzuſtellen ſchien, waren dem Weſen Dante's ſo entgegen-
geſetzt als möglich. Sieht man aber näher zu, ſo haben
auch auf ihn gewiſſe Philoſopheme der Alten einen Ein-
druck gemacht, vor welchem die bibliſche Lehre von der
Weltlenkung zurücktritt. Oder war es eigene Speculation,
Einwirkung der Tagesmeinung, Grauen vor dem die Welt
beherrſchenden Unrecht, wenn er 2) die ſpecielle Vorſehung
völlig aufgab? Sein Gott überläßt nämlich das ganze
Detail der Weltregierung einem dämoniſchen Weſen, der
Fortuna, welche für nichts als für Veränderung, für
das Durcheinanderrütteln der Erdendinge zu ſorgen hat
und in indifferenter Seligkeit den Jammer der Menſchen
überhören darf. Dafür hält er aber die ſittliche Verant-
wortung des Menſchen unerbittlich feſt: er glaubt an den
freien Willen.
Der Populärglaube an den freien Willen herrſcht im
Abendlande von jeher, wie man denn auch zu allen Zeiten
Jeden perſönlich für das was er gethan, verantwortlich ge-
Lehre vom
freien Willen.
1) Man vgl. die bekannte Beweisführung im dritten Buche des Lucretius.
2) Inferno, VII, 67 bis 96.
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/512>, abgerufen am 28.11.2024.
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