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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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uns wenigstens einige Fächer ihres religiösen Bewußtseins6. Abschnitt.
öffnen könnte. In der That lassen sich Gradunterschiede
nachweisen, doch lange nicht so deutlich wie es zu wünschen
wäre. Zunächst scheint die Regierung von Venedig im
XV. Jahrhundert durchaus diejenige Andacht zu den Ueber-
resten heiliger Leiber getheilt zu haben, welche damals durch
das ganze Abendland herrschte (S. 73). Auch Fremde,
welche in Venedig lebten, thaten wohl, sich dieser Befangen-
heit zu fügen 1). Wenn wir das gelehrte Padua nach sei-
nem Topographen Michele Savonarola (S. 148) beurtheilen
dürften, so wäre es hier nicht anders gewesen als in Ve-
nedig. Mit einem Hochgefühl, in welches sich frommes
Grausen mischt, erzählt uns Michele, wie man bei großen
Gefahren des Nachts durch die ganze Stadt die Heiligen
seufzen höre, wie der Leiche einer heiligen Nonne zu S. Chiara
beständig Nägel und Haare wachsen, wie sie bei bevorste-
hendem Unheil Lärm macht, die Arme erhebt, u. dgl. 2).
Bei der Beschreibung der Antoniuscapelle im Santo ver-
liert sich der Autor völlig ins Stammeln und Phantasiren.
In Mailand zeigte wenigstens das Volk einen großen Re-
liquienfanatismus, und als einst (1517) die Mönche in
S. Simpliciano beim Umbau des Hochaltars sechs heilige
Leichen unvorsichtig aufdeckten und mächtige Regenstürme
über das Land kamen, suchten die Leute 3) die Ursache der
letztern in jenem Sacrilegium und prügelten die betreffenden
Mönche auf öffentlicher Straße durch, wo sie sie antrafen.Dessen Grad-
unterschiede.

In andern Gegenden Italiens aber, selbst bei den Päpsten,

1) So Sabellico, de situ venetae urbis. Er nennt zwar die Namen
der Kirchenheiligen, nach Art mehrerer Philologen, ohne sanctus
oder divus, führt aber eine Menge Reliquien an und thut sehr
zärtlich damit, rühmt sich auch bei mehrern Stücken, sie geküßt zu
haben.
2) De laudibus Patavii, bei Murat. XXIV, Col. 1149 bis 1151.
3) Prato, arch. stor. III, p. 408. -- Er gehört sonst nicht zu den
Aufklärern, aber gegen diesen Causalnerus protestirt er denn doch.

uns wenigſtens einige Fächer ihres religiöſen Bewußtſeins6. Abſchnitt.
öffnen könnte. In der That laſſen ſich Gradunterſchiede
nachweiſen, doch lange nicht ſo deutlich wie es zu wünſchen
wäre. Zunächſt ſcheint die Regierung von Venedig im
XV. Jahrhundert durchaus diejenige Andacht zu den Ueber-
reſten heiliger Leiber getheilt zu haben, welche damals durch
das ganze Abendland herrſchte (S. 73). Auch Fremde,
welche in Venedig lebten, thaten wohl, ſich dieſer Befangen-
heit zu fügen 1). Wenn wir das gelehrte Padua nach ſei-
nem Topographen Michele Savonarola (S. 148) beurtheilen
dürften, ſo wäre es hier nicht anders geweſen als in Ve-
nedig. Mit einem Hochgefühl, in welches ſich frommes
Grauſen miſcht, erzählt uns Michele, wie man bei großen
Gefahren des Nachts durch die ganze Stadt die Heiligen
ſeufzen höre, wie der Leiche einer heiligen Nonne zu S. Chiara
beſtändig Nägel und Haare wachſen, wie ſie bei bevorſte-
hendem Unheil Lärm macht, die Arme erhebt, u. dgl. 2).
Bei der Beſchreibung der Antoniuscapelle im Santo ver-
liert ſich der Autor völlig ins Stammeln und Phantaſiren.
In Mailand zeigte wenigſtens das Volk einen großen Re-
liquienfanatismus, und als einſt (1517) die Mönche in
S. Simpliciano beim Umbau des Hochaltars ſechs heilige
Leichen unvorſichtig aufdeckten und mächtige Regenſtürme
über das Land kamen, ſuchten die Leute 3) die Urſache der
letztern in jenem Sacrilegium und prügelten die betreffenden
Mönche auf öffentlicher Straße durch, wo ſie ſie antrafen.Deſſen Grad-
unterſchiede.

In andern Gegenden Italiens aber, ſelbſt bei den Päpſten,

1) So Sabellico, de situ venetæ urbis. Er nennt zwar die Namen
der Kirchenheiligen, nach Art mehrerer Philologen, ohne sanctus
oder divus, führt aber eine Menge Reliquien an und thut ſehr
zärtlich damit, rühmt ſich auch bei mehrern Stücken, ſie geküßt zu
haben.
2) De laudibus Patavii, bei Murat. XXIV, Col. 1149 bis 1151.
3) Prato, arch. stor. III, p. 408. — Er gehört ſonſt nicht zu den
Aufklärern, aber gegen dieſen Cauſalnerus proteſtirt er denn doch.
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[485/0495] uns wenigſtens einige Fächer ihres religiöſen Bewußtſeins öffnen könnte. In der That laſſen ſich Gradunterſchiede nachweiſen, doch lange nicht ſo deutlich wie es zu wünſchen wäre. Zunächſt ſcheint die Regierung von Venedig im XV. Jahrhundert durchaus diejenige Andacht zu den Ueber- reſten heiliger Leiber getheilt zu haben, welche damals durch das ganze Abendland herrſchte (S. 73). Auch Fremde, welche in Venedig lebten, thaten wohl, ſich dieſer Befangen- heit zu fügen 1). Wenn wir das gelehrte Padua nach ſei- nem Topographen Michele Savonarola (S. 148) beurtheilen dürften, ſo wäre es hier nicht anders geweſen als in Ve- nedig. Mit einem Hochgefühl, in welches ſich frommes Grauſen miſcht, erzählt uns Michele, wie man bei großen Gefahren des Nachts durch die ganze Stadt die Heiligen ſeufzen höre, wie der Leiche einer heiligen Nonne zu S. Chiara beſtändig Nägel und Haare wachſen, wie ſie bei bevorſte- hendem Unheil Lärm macht, die Arme erhebt, u. dgl. 2). Bei der Beſchreibung der Antoniuscapelle im Santo ver- liert ſich der Autor völlig ins Stammeln und Phantaſiren. In Mailand zeigte wenigſtens das Volk einen großen Re- liquienfanatismus, und als einſt (1517) die Mönche in S. Simpliciano beim Umbau des Hochaltars ſechs heilige Leichen unvorſichtig aufdeckten und mächtige Regenſtürme über das Land kamen, ſuchten die Leute 3) die Urſache der letztern in jenem Sacrilegium und prügelten die betreffenden Mönche auf öffentlicher Straße durch, wo ſie ſie antrafen. In andern Gegenden Italiens aber, ſelbſt bei den Päpſten, 6. Abſchnitt. Deſſen Grad- unterſchiede. 1) So Sabellico, de situ venetæ urbis. Er nennt zwar die Namen der Kirchenheiligen, nach Art mehrerer Philologen, ohne sanctus oder divus, führt aber eine Menge Reliquien an und thut ſehr zärtlich damit, rühmt ſich auch bei mehrern Stücken, ſie geküßt zu haben. 2) De laudibus Patavii, bei Murat. XXIV, Col. 1149 bis 1151. 3) Prato, arch. stor. III, p. 408. — Er gehört ſonſt nicht zu den Aufklärern, aber gegen dieſen Cauſalnerus proteſtirt er denn doch.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/495>, abgerufen am 25.04.2024.