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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.liche Aufzählung der Todsünden angeschlossen zu haben;
je dringender aber der Moment ist, um so eher geht der
Prediger unmittelbar auf das Hauptziel los. Er beginnt
vielleicht in einer jener gewaltig großen Ordenskirchen
oder im Dom; binnen Kurzem ist die größte Piazza zu
klein für das von allen Gegenden herbeiströmende Volk,
und das Kommen und Gehen ist für ihn selbst mit Lebens-
gefahr verbunden 1). In der Regel schließt die Predigt
mit einer ungeheuern Procession, allein die ersten Stadt-
beamten, welche ihn in die Mitte nehmen, können ihn auch
da kaum vor den Leuten sichern, welche ihm Hände und
Füße küssen und Stücke von seiner Kutte schneiden 2).

Die nächsten Erfolge, welche sich am leichtesten erge-
ben, nachdem gegen Wucher, Vorkauf und unehrbare Moden
gepredigt worden, sind das Eröffnen der Gefängnisse, d. h.
wohl nur die Freilassung ärmerer Schuldgefangenen, und
das Verbrennen von Luxussachen und Werkzeugen gefähr-
lichen sowohl als unschuldigen Zeitvertreibes: als da sind
Würfel, Karten, Spiele aller Art, "Maskengesichter", Mu-
sikinstrumente, Gesangbücher, geschriebene Zauberformeln 3),
falsche Haartouren etc. Dieß Alles wurde auf einem Ge-
rüste (talamo) ohne Zweifel zierlich gruppirt, oben drauf
etwa noch eine Teufelsfigur befestigt, und dann Feuer
angelegt. (Vgl. S. 368.)

1) Stor. Bresciana bei Murat. XXI, Col. 865.
2) Allegretto, Diarei sanesi, bei Murat. XXIII, Col. 819.
3) Infessura (bei Eccard, scriptores II, Col. 1874) sagt: canti,
brevi, sorti.
Ersteres könnte auf Liederbücher gehen, dergleichen
wenigstens Savonarola wirklich verbrannt hat. Allein Graziani
(Cron. di Perugia, arch. stor. XVI, I, p.
314) sagt bei einem
ähnlichen Anlaß, brieve incante, was ohne Zweifel brevi e in-
canti
zu lesen ist, und eine ähnliche Emendation ist vielleicht auch
bei Infessura rathsam, dessen sorti ohnehin irgend eine Sache des
Aberglaubens bezeichnen, etwa ein wahrsagendes Kartenspiel. -- Zur
Zeit des Bücherdruckes sammelte man auch z. B. alle Exemplare
des Martial für den Scheiterhaufen ein. Bandello III, Nov. 10.

6. Abſchnitt.liche Aufzählung der Todſünden angeſchloſſen zu haben;
je dringender aber der Moment iſt, um ſo eher geht der
Prediger unmittelbar auf das Hauptziel los. Er beginnt
vielleicht in einer jener gewaltig großen Ordenskirchen
oder im Dom; binnen Kurzem iſt die größte Piazza zu
klein für das von allen Gegenden herbeiſtrömende Volk,
und das Kommen und Gehen iſt für ihn ſelbſt mit Lebens-
gefahr verbunden 1). In der Regel ſchließt die Predigt
mit einer ungeheuern Proceſſion, allein die erſten Stadt-
beamten, welche ihn in die Mitte nehmen, können ihn auch
da kaum vor den Leuten ſichern, welche ihm Hände und
Füße küſſen und Stücke von ſeiner Kutte ſchneiden 2).

Die nächſten Erfolge, welche ſich am leichteſten erge-
ben, nachdem gegen Wucher, Vorkauf und unehrbare Moden
gepredigt worden, ſind das Eröffnen der Gefängniſſe, d. h.
wohl nur die Freilaſſung ärmerer Schuldgefangenen, und
das Verbrennen von Luxusſachen und Werkzeugen gefähr-
lichen ſowohl als unſchuldigen Zeitvertreibes: als da ſind
Würfel, Karten, Spiele aller Art, „Maskengeſichter“, Mu-
ſikinſtrumente, Geſangbücher, geſchriebene Zauberformeln 3),
falſche Haartouren ꝛc. Dieß Alles wurde auf einem Ge-
rüſte (talamo) ohne Zweifel zierlich gruppirt, oben drauf
etwa noch eine Teufelsfigur befeſtigt, und dann Feuer
angelegt. (Vgl. S. 368.)

1) Stor. Bresciana bei Murat. XXI, Col. 865.
2) Allegretto, Diarî sanesi, bei Murat. XXIII, Col. 819.
3) Infessura (bei Eccard, scriptores II, Col. 1874) ſagt: canti,
brevi, sorti.
Erſteres könnte auf Liederbücher gehen, dergleichen
wenigſtens Savonarola wirklich verbrannt hat. Allein Graziani
(Cron. di Perugia, arch. stor. XVI, I, p.
314) ſagt bei einem
ähnlichen Anlaß, brieve incante, was ohne Zweifel brevi e in-
canti
zu leſen iſt, und eine ähnliche Emendation iſt vielleicht auch
bei Infeſſura rathſam, deſſen sorti ohnehin irgend eine Sache des
Aberglaubens bezeichnen, etwa ein wahrſagendes Kartenſpiel. — Zur
Zeit des Bücherdruckes ſammelte man auch z. B. alle Exemplare
des Martial für den Scheiterhaufen ein. Bandello III, Nov. 10.
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[470/0480] liche Aufzählung der Todſünden angeſchloſſen zu haben; je dringender aber der Moment iſt, um ſo eher geht der Prediger unmittelbar auf das Hauptziel los. Er beginnt vielleicht in einer jener gewaltig großen Ordenskirchen oder im Dom; binnen Kurzem iſt die größte Piazza zu klein für das von allen Gegenden herbeiſtrömende Volk, und das Kommen und Gehen iſt für ihn ſelbſt mit Lebens- gefahr verbunden 1). In der Regel ſchließt die Predigt mit einer ungeheuern Proceſſion, allein die erſten Stadt- beamten, welche ihn in die Mitte nehmen, können ihn auch da kaum vor den Leuten ſichern, welche ihm Hände und Füße küſſen und Stücke von ſeiner Kutte ſchneiden 2). 6. Abſchnitt. Die nächſten Erfolge, welche ſich am leichteſten erge- ben, nachdem gegen Wucher, Vorkauf und unehrbare Moden gepredigt worden, ſind das Eröffnen der Gefängniſſe, d. h. wohl nur die Freilaſſung ärmerer Schuldgefangenen, und das Verbrennen von Luxusſachen und Werkzeugen gefähr- lichen ſowohl als unſchuldigen Zeitvertreibes: als da ſind Würfel, Karten, Spiele aller Art, „Maskengeſichter“, Mu- ſikinſtrumente, Geſangbücher, geſchriebene Zauberformeln 3), falſche Haartouren ꝛc. Dieß Alles wurde auf einem Ge- rüſte (talamo) ohne Zweifel zierlich gruppirt, oben drauf etwa noch eine Teufelsfigur befeſtigt, und dann Feuer angelegt. (Vgl. S. 368.) 1) Stor. Bresciana bei Murat. XXI, Col. 865. 2) Allegretto, Diarî sanesi, bei Murat. XXIII, Col. 819. 3) Infessura (bei Eccard, scriptores II, Col. 1874) ſagt: canti, brevi, sorti. Erſteres könnte auf Liederbücher gehen, dergleichen wenigſtens Savonarola wirklich verbrannt hat. Allein Graziani (Cron. di Perugia, arch. stor. XVI, I, p. 314) ſagt bei einem ähnlichen Anlaß, brieve incante, was ohne Zweifel brevi e in- canti zu leſen iſt, und eine ähnliche Emendation iſt vielleicht auch bei Infeſſura rathſam, deſſen sorti ohnehin irgend eine Sache des Aberglaubens bezeichnen, etwa ein wahrſagendes Kartenſpiel. — Zur Zeit des Bücherdruckes ſammelte man auch z. B. alle Exemplare des Martial für den Scheiterhaufen ein. Bandello III, Nov. 10.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/480>, abgerufen am 26.11.2024.