weitem nicht diejenige Zerstörung erlitt, welche es im Nor-6. Abschnitt. den unter ähnlichen Umständen erleiden würde. Man wollte völlig nach Willkür leben aber durchaus nicht auf die Fa- milie verzichten, selbst wenn zu fürchten stand, daß es nicht ganz die eigene sei. Auch sank die Race deßhalb weder physisch noch geistig -- denn von derjenigen scheinbaren geistigen Abnahme, welche sich gegen die Mitte des XVI. Jahrhunderts zu erkennen giebt, lassen sich ganz bestimmte äußere Ursachen politischer und kirchlicher Art namhaft machen, selbst wenn man nicht zugeben will, daß der Kreis der möglichen Schöpfungen der Renaissance durchlaufen gewesen sei. Die Italiener fuhren fort, trotz aller Aus- schweifung zu den leiblich und geistig gesundesten und wohl- geborensten Bevölkerungen Europa's zu gehören 1), und behaupten diesen Vorzug bekanntlich bis auf diesen Tag, nachdem sich die Sitten sehr gebessert haben.
Wenn man nun der Liebesmoral der Renaissance näherFrivole und ideale Lieb- schaft. nachgeht, so findet man sich betroffen von einem merkwür- digen Gegensatz in den Aussagen. Die Novellisten und Comödiendichter machen den Eindruck, als bestände die Liebe durchaus nur im Genusse und als wären zu dessen Errei- chung alle Mittel, tragische wie komische, nicht nur erlaubt, sondern je kühner und frivoler, desto interessanter. Liest man die bessern Lyriker und Dialogenschreiber, so lebt in ihnen die edelste Vertiefung und Vergeistigung der Leiden- schaft, ja der letzte und höchste Ausdruck derselben wird ge- sucht in einer Aneignung antiker Ideen von einer ursprüng- lichen Einheit der Seelen im göttlichen Wesen. Und beide Anschauungen sind damals wahr und in einem und dem- selben Individuum vereinbar. Es ist nicht durchaus rühmlich, aber es ist eine Thatsache, daß in dem modernen gebildeten
1) Mit der völlig entwickelten spanischen Herrschaft trat allerdings eine relative Entvölkerung ein. Wäre sie Folge der Entsittlichung gewe- sen, so hätte sie viel früher eintreten müssen.
weitem nicht diejenige Zerſtörung erlitt, welche es im Nor-6. Abſchnitt. den unter ähnlichen Umſtänden erleiden würde. Man wollte völlig nach Willkür leben aber durchaus nicht auf die Fa- milie verzichten, ſelbſt wenn zu fürchten ſtand, daß es nicht ganz die eigene ſei. Auch ſank die Race deßhalb weder phyſiſch noch geiſtig — denn von derjenigen ſcheinbaren geiſtigen Abnahme, welche ſich gegen die Mitte des XVI. Jahrhunderts zu erkennen giebt, laſſen ſich ganz beſtimmte äußere Urſachen politiſcher und kirchlicher Art namhaft machen, ſelbſt wenn man nicht zugeben will, daß der Kreis der möglichen Schöpfungen der Renaiſſance durchlaufen geweſen ſei. Die Italiener fuhren fort, trotz aller Aus- ſchweifung zu den leiblich und geiſtig geſundeſten und wohl- geborenſten Bevölkerungen Europa's zu gehören 1), und behaupten dieſen Vorzug bekanntlich bis auf dieſen Tag, nachdem ſich die Sitten ſehr gebeſſert haben.
Wenn man nun der Liebesmoral der Renaiſſance näherFrivole und ideale Lieb- ſchaft. nachgeht, ſo findet man ſich betroffen von einem merkwür- digen Gegenſatz in den Ausſagen. Die Novelliſten und Comödiendichter machen den Eindruck, als beſtände die Liebe durchaus nur im Genuſſe und als wären zu deſſen Errei- chung alle Mittel, tragiſche wie komiſche, nicht nur erlaubt, ſondern je kühner und frivoler, deſto intereſſanter. Liest man die beſſern Lyriker und Dialogenſchreiber, ſo lebt in ihnen die edelſte Vertiefung und Vergeiſtigung der Leiden- ſchaft, ja der letzte und höchſte Ausdruck derſelben wird ge- ſucht in einer Aneignung antiker Ideen von einer urſprüng- lichen Einheit der Seelen im göttlichen Weſen. Und beide Anſchauungen ſind damals wahr und in einem und dem- ſelben Individuum vereinbar. Es iſt nicht durchaus rühmlich, aber es iſt eine Thatſache, daß in dem modernen gebildeten
1) Mit der völlig entwickelten ſpaniſchen Herrſchaft trat allerdings eine relative Entvölkerung ein. Wäre ſie Folge der Entſittlichung gewe- ſen, ſo hätte ſie viel früher eintreten müſſen.
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weitem nicht diejenige Zerſtörung erlitt, welche es im Nor-
den unter ähnlichen Umſtänden erleiden würde. Man wollte
völlig nach Willkür leben aber durchaus nicht auf die Fa-
milie verzichten, ſelbſt wenn zu fürchten ſtand, daß es nicht
ganz die eigene ſei. Auch ſank die Race deßhalb weder
phyſiſch noch geiſtig — denn von derjenigen ſcheinbaren
geiſtigen Abnahme, welche ſich gegen die Mitte des XVI.
Jahrhunderts zu erkennen giebt, laſſen ſich ganz beſtimmte
äußere Urſachen politiſcher und kirchlicher Art namhaft
machen, ſelbſt wenn man nicht zugeben will, daß der Kreis
der möglichen Schöpfungen der Renaiſſance durchlaufen
geweſen ſei. Die Italiener fuhren fort, trotz aller Aus-
ſchweifung zu den leiblich und geiſtig geſundeſten und wohl-
geborenſten Bevölkerungen Europa's zu gehören 1), und
behaupten dieſen Vorzug bekanntlich bis auf dieſen Tag,
nachdem ſich die Sitten ſehr gebeſſert haben.
6. Abſchnitt.
Wenn man nun der Liebesmoral der Renaiſſance näher
nachgeht, ſo findet man ſich betroffen von einem merkwür-
digen Gegenſatz in den Ausſagen. Die Novelliſten und
Comödiendichter machen den Eindruck, als beſtände die Liebe
durchaus nur im Genuſſe und als wären zu deſſen Errei-
chung alle Mittel, tragiſche wie komiſche, nicht nur erlaubt,
ſondern je kühner und frivoler, deſto intereſſanter. Liest
man die beſſern Lyriker und Dialogenſchreiber, ſo lebt in
ihnen die edelſte Vertiefung und Vergeiſtigung der Leiden-
ſchaft, ja der letzte und höchſte Ausdruck derſelben wird ge-
ſucht in einer Aneignung antiker Ideen von einer urſprüng-
lichen Einheit der Seelen im göttlichen Weſen. Und beide
Anſchauungen ſind damals wahr und in einem und dem-
ſelben Individuum vereinbar. Es iſt nicht durchaus rühmlich,
aber es iſt eine Thatſache, daß in dem modernen gebildeten
Frivole
und ideale Lieb-
ſchaft.
1) Mit der völlig entwickelten ſpaniſchen Herrſchaft trat allerdings eine
relative Entvölkerung ein. Wäre ſie Folge der Entſittlichung gewe-
ſen, ſo hätte ſie viel früher eintreten müſſen.
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/449>, abgerufen am 22.11.2024.
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