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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.Dieses Verhältniß der Phantasie zu den moralischen
Eigenschaften des Italieners wiederholt sich nun durchgängig.
Wenn daneben scheinbar viel mehr kalte Berechnung zu Tage
tritt in Fällen da der Nordländer mehr dem Gemüthe folgt,
so hängt dieß wohl davon ab, daß der Italiener häufiger
sowohl als früher und stärker individuell entwickelt ist. Wo
dieß außerhalb Italiens ebenfalls stattfindet, da ergeben sich
auch ähnliche Resultate; die zeitige Entfremdung vom Hause
und von der väterlichen Autorität z. B. ist der italienischen
und der nordamericanischen Jugend gleichmäßig eigen. Spä-
ter stellt sich dann bei den edlern Naturen das Verhältniß
einer freien Pietät zwischen Kindern und Eltern ein.

Es ist überhaupt ganz besonders schwer, über die
Sphäre des Gemüthes bei andern Nationen zu urtheilen.
Dasselbe kann sehr entwickelt vorhanden sein, aber in so
fremdartiger Weise, daß der von draußen kommende es
nicht erkennt, es kann sich auch wohl vollkommen vor ihm
verstecken. Vielleicht sind alle abendländischen Nationen in
dieser Beziehung gleichmäßig begnadigt.

Verletzung der
Ehe.
Wenn aber irgendwo die Phantasie als gewaltige
Herrinn sich in die Moralität gemischt hat, so ist dieß ge-
schehen im unerlaubten Verkehr der beiden Geschlechter. Vor
der gewöhnlichen Hurerei scheute sich bekanntlich das Mittelalter
überhaupt nicht bis die Syphilis kam, und eine vergleichende
Statistik der damaligen Prostitution jeder Art gehört nicht
hieher. Was aber dem Italien der Renaissance eigen zu
sein scheint, ist daß die Ehe und ihr Recht vielleicht mehr
und jedenfalls bewußter als anderswo mit Füßen getreten
wird. Die Mädchen der höhern Stände, sorgfältig abge-
schlossen, kommen nicht in Betracht; auf verheirathete Frauen
bezieht sich alle Leidenschaft.

Dabei ist bemerkenswerth, daß die Ehen doch nicht
nachweisbar abnahmen und daß das Familienleben bei

6. Abſchnitt.Dieſes Verhältniß der Phantaſie zu den moraliſchen
Eigenſchaften des Italieners wiederholt ſich nun durchgängig.
Wenn daneben ſcheinbar viel mehr kalte Berechnung zu Tage
tritt in Fällen da der Nordländer mehr dem Gemüthe folgt,
ſo hängt dieß wohl davon ab, daß der Italiener häufiger
ſowohl als früher und ſtärker individuell entwickelt iſt. Wo
dieß außerhalb Italiens ebenfalls ſtattfindet, da ergeben ſich
auch ähnliche Reſultate; die zeitige Entfremdung vom Hauſe
und von der väterlichen Autorität z. B. iſt der italieniſchen
und der nordamericaniſchen Jugend gleichmäßig eigen. Spä-
ter ſtellt ſich dann bei den edlern Naturen das Verhältniß
einer freien Pietät zwiſchen Kindern und Eltern ein.

Es iſt überhaupt ganz beſonders ſchwer, über die
Sphäre des Gemüthes bei andern Nationen zu urtheilen.
Daſſelbe kann ſehr entwickelt vorhanden ſein, aber in ſo
fremdartiger Weiſe, daß der von draußen kommende es
nicht erkennt, es kann ſich auch wohl vollkommen vor ihm
verſtecken. Vielleicht ſind alle abendländiſchen Nationen in
dieſer Beziehung gleichmäßig begnadigt.

Verletzung der
Ehe.
Wenn aber irgendwo die Phantaſie als gewaltige
Herrinn ſich in die Moralität gemiſcht hat, ſo iſt dieß ge-
ſchehen im unerlaubten Verkehr der beiden Geſchlechter. Vor
der gewöhnlichen Hurerei ſcheute ſich bekanntlich das Mittelalter
überhaupt nicht bis die Syphilis kam, und eine vergleichende
Statiſtik der damaligen Proſtitution jeder Art gehört nicht
hieher. Was aber dem Italien der Renaiſſance eigen zu
ſein ſcheint, iſt daß die Ehe und ihr Recht vielleicht mehr
und jedenfalls bewußter als anderswo mit Füßen getreten
wird. Die Mädchen der höhern Stände, ſorgfältig abge-
ſchloſſen, kommen nicht in Betracht; auf verheirathete Frauen
bezieht ſich alle Leidenſchaft.

Dabei iſt bemerkenswerth, daß die Ehen doch nicht
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[438/0448] Dieſes Verhältniß der Phantaſie zu den moraliſchen Eigenſchaften des Italieners wiederholt ſich nun durchgängig. Wenn daneben ſcheinbar viel mehr kalte Berechnung zu Tage tritt in Fällen da der Nordländer mehr dem Gemüthe folgt, ſo hängt dieß wohl davon ab, daß der Italiener häufiger ſowohl als früher und ſtärker individuell entwickelt iſt. Wo dieß außerhalb Italiens ebenfalls ſtattfindet, da ergeben ſich auch ähnliche Reſultate; die zeitige Entfremdung vom Hauſe und von der väterlichen Autorität z. B. iſt der italieniſchen und der nordamericaniſchen Jugend gleichmäßig eigen. Spä- ter ſtellt ſich dann bei den edlern Naturen das Verhältniß einer freien Pietät zwiſchen Kindern und Eltern ein. 6. Abſchnitt. Es iſt überhaupt ganz beſonders ſchwer, über die Sphäre des Gemüthes bei andern Nationen zu urtheilen. Daſſelbe kann ſehr entwickelt vorhanden ſein, aber in ſo fremdartiger Weiſe, daß der von draußen kommende es nicht erkennt, es kann ſich auch wohl vollkommen vor ihm verſtecken. Vielleicht ſind alle abendländiſchen Nationen in dieſer Beziehung gleichmäßig begnadigt. Wenn aber irgendwo die Phantaſie als gewaltige Herrinn ſich in die Moralität gemiſcht hat, ſo iſt dieß ge- ſchehen im unerlaubten Verkehr der beiden Geſchlechter. Vor der gewöhnlichen Hurerei ſcheute ſich bekanntlich das Mittelalter überhaupt nicht bis die Syphilis kam, und eine vergleichende Statiſtik der damaligen Proſtitution jeder Art gehört nicht hieher. Was aber dem Italien der Renaiſſance eigen zu ſein ſcheint, iſt daß die Ehe und ihr Recht vielleicht mehr und jedenfalls bewußter als anderswo mit Füßen getreten wird. Die Mädchen der höhern Stände, ſorgfältig abge- ſchloſſen, kommen nicht in Betracht; auf verheirathete Frauen bezieht ſich alle Leidenſchaft. Verletzung der Ehe. Dabei iſt bemerkenswerth, daß die Ehen doch nicht nachweisbar abnahmen und daß das Familienleben bei

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/448>, abgerufen am 26.04.2024.