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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.florentinischen Geschichtschreiber und Politiker sind von so
knechtischen Citaten völlig frei und was in ihren Urtheilen
und Thaten antik erscheint, ist es, weil ihr Staatswesen
eine nothwendig dem Alterthum einigermaßen analoge Denk-
weise hervorgetrieben hatte.

Immerhin aber fand Italien um den Anfang des
XVI. Jahrhunderts sich in einer schweren sittlichen Crisis,
aus welcher die Bessern kaum einen Ausweg hofften.

Beginnen wir damit, die dem Bösen auf's Stärkste
entgegenwirkende sittliche Kraft namhaft zu machen. Jene
hochbegabten Menschen glaubten sie zu erkennen in Gestalt
Das moderne
Ehrgefühl.
des Ehrgefühls. Es ist die räthselhafte Mischung aus
Gewissen und Selbstsucht, welche dem modernen Menschen
noch übrig bleibt auch wenn er durch oder ohne seine Schuld
alles Uebrige, Glauben, Liebe und Hoffnung eingebüßt
hat. Dieses Ehrgefühl verträgt sich mit vielem Egoismus
und großen Lastern und ist ungeheurer Täuschungen fähig,
aber auch alles Edle, das in einer Persönlichkeit übrig ge-
blieben, kann sich daran anschließen und aus diesem Quell
neue Kräfte schöpfen. In viel weiterm Sinne als man
gewöhnlich denkt, ist es für die heutigen individuell ent-
wickelten Europäer eine entscheidende Richtschnur des Han-
delns geworden; auch Viele von denjenigen, welche noch
außerdem Sitte und Religion treulich festhalten, fassen doch
die wichtigsten Entschlüsse unbewußt nach jenem Gefühl.

Es ist nicht unsere Aufgabe nachzuweisen wie schon
das Alterthum eine eigenthümliche Schattirung dieses Ge-
fühles kannte und wie dann das Mittelalter die Ehre in
einem speciellen Sinne zur Sache eines bestimmten Standes
machte. Auch dürfen wir mit denjenigen nicht streiten,
welche das Gewissen allein statt des Ehrgefühls als die
wesentliche Triebkraft ansehen; es wäre schöner und besser
wenn es sich so verhielte, allein sobald man doch zugeben
muß, daß die bessern Entschlüsse aus einem "von Selbst-
sucht mehr oder weniger getrübten Gewissen" hervorgehen,

6. Abſchnitt.florentiniſchen Geſchichtſchreiber und Politiker ſind von ſo
knechtiſchen Citaten völlig frei und was in ihren Urtheilen
und Thaten antik erſcheint, iſt es, weil ihr Staatsweſen
eine nothwendig dem Alterthum einigermaßen analoge Denk-
weiſe hervorgetrieben hatte.

Immerhin aber fand Italien um den Anfang des
XVI. Jahrhunderts ſich in einer ſchweren ſittlichen Criſis,
aus welcher die Beſſern kaum einen Ausweg hofften.

Beginnen wir damit, die dem Böſen auf's Stärkſte
entgegenwirkende ſittliche Kraft namhaft zu machen. Jene
hochbegabten Menſchen glaubten ſie zu erkennen in Geſtalt
Das moderne
Ehrgefühl.
des Ehrgefühls. Es iſt die räthſelhafte Miſchung aus
Gewiſſen und Selbſtſucht, welche dem modernen Menſchen
noch übrig bleibt auch wenn er durch oder ohne ſeine Schuld
alles Uebrige, Glauben, Liebe und Hoffnung eingebüßt
hat. Dieſes Ehrgefühl verträgt ſich mit vielem Egoismus
und großen Laſtern und iſt ungeheurer Täuſchungen fähig,
aber auch alles Edle, das in einer Perſönlichkeit übrig ge-
blieben, kann ſich daran anſchließen und aus dieſem Quell
neue Kräfte ſchöpfen. In viel weiterm Sinne als man
gewöhnlich denkt, iſt es für die heutigen individuell ent-
wickelten Europäer eine entſcheidende Richtſchnur des Han-
delns geworden; auch Viele von denjenigen, welche noch
außerdem Sitte und Religion treulich feſthalten, faſſen doch
die wichtigſten Entſchlüſſe unbewußt nach jenem Gefühl.

Es iſt nicht unſere Aufgabe nachzuweiſen wie ſchon
das Alterthum eine eigenthümliche Schattirung dieſes Ge-
fühles kannte und wie dann das Mittelalter die Ehre in
einem ſpeciellen Sinne zur Sache eines beſtimmten Standes
machte. Auch dürfen wir mit denjenigen nicht ſtreiten,
welche das Gewiſſen allein ſtatt des Ehrgefühls als die
weſentliche Triebkraft anſehen; es wäre ſchöner und beſſer
wenn es ſich ſo verhielte, allein ſobald man doch zugeben
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[430/0440] florentiniſchen Geſchichtſchreiber und Politiker ſind von ſo knechtiſchen Citaten völlig frei und was in ihren Urtheilen und Thaten antik erſcheint, iſt es, weil ihr Staatsweſen eine nothwendig dem Alterthum einigermaßen analoge Denk- weiſe hervorgetrieben hatte. 6. Abſchnitt. Immerhin aber fand Italien um den Anfang des XVI. Jahrhunderts ſich in einer ſchweren ſittlichen Criſis, aus welcher die Beſſern kaum einen Ausweg hofften. Beginnen wir damit, die dem Böſen auf's Stärkſte entgegenwirkende ſittliche Kraft namhaft zu machen. Jene hochbegabten Menſchen glaubten ſie zu erkennen in Geſtalt des Ehrgefühls. Es iſt die räthſelhafte Miſchung aus Gewiſſen und Selbſtſucht, welche dem modernen Menſchen noch übrig bleibt auch wenn er durch oder ohne ſeine Schuld alles Uebrige, Glauben, Liebe und Hoffnung eingebüßt hat. Dieſes Ehrgefühl verträgt ſich mit vielem Egoismus und großen Laſtern und iſt ungeheurer Täuſchungen fähig, aber auch alles Edle, das in einer Perſönlichkeit übrig ge- blieben, kann ſich daran anſchließen und aus dieſem Quell neue Kräfte ſchöpfen. In viel weiterm Sinne als man gewöhnlich denkt, iſt es für die heutigen individuell ent- wickelten Europäer eine entſcheidende Richtſchnur des Han- delns geworden; auch Viele von denjenigen, welche noch außerdem Sitte und Religion treulich feſthalten, faſſen doch die wichtigſten Entſchlüſſe unbewußt nach jenem Gefühl. Das moderne Ehrgefühl. Es iſt nicht unſere Aufgabe nachzuweiſen wie ſchon das Alterthum eine eigenthümliche Schattirung dieſes Ge- fühles kannte und wie dann das Mittelalter die Ehre in einem ſpeciellen Sinne zur Sache eines beſtimmten Standes machte. Auch dürfen wir mit denjenigen nicht ſtreiten, welche das Gewiſſen allein ſtatt des Ehrgefühls als die weſentliche Triebkraft anſehen; es wäre ſchöner und beſſer wenn es ſich ſo verhielte, allein ſobald man doch zugeben muß, daß die beſſern Entſchlüſſe aus einem „von Selbſt- ſucht mehr oder weniger getrübten Gewiſſen“ hervorgehen,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/440>, abgerufen am 27.04.2024.