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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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schieden war, fehlte es nicht an ernsten Denkern, welche6. Abschnitt.
dieses Unglück mit der großen Sittenlosigkeit in Verbindung
brachten. Es sind keine von jenen Bußpredigern, welche
bei jedem Volke und zu jeder Zeit über die schlechten Zeiten
zu klagen sich verpflichtet glauben, sondern ein Macchiavell
ist es, der mitten in einer seiner wichtigsten Gedankenreihen 1)
es offen ausspricht: ja, wir Italiener sind vorzugsweise
irreligiös und böse. -- Ein Anderer hätte vielleicht gesagt:
wir sind vorzugsweise individuell entwickelt; die Race hat
uns aus den Schranken ihrer Sitte und Religion entlassen,
und die äußern Gesetze verachten wir weil unsere Herrscher
illegitim und ihre Beamten und Richter verworfene Men-
schen sind. -- Macchiavell selber setzt hinzu: weil die Kirche
in ihren Vertretern das übelste Beispiel giebt.

Sollen wir hier noch beifügen: "weil das AlterthumEinfluß des Al-
terthums.

ungünstig einwirkte?" -- jedenfalls bedürfte eine solche
Annahme sorgfältiger Beschränkungen. Bei den Humanisten
(S. 269) wird man am ehesten davon reden dürfen, zumal
in Betreff ihres wüsten Sinnenlebens. Bei den Uebrigen
möchte sich die Sache ungefähr so verhalten haben, daß an
die Stelle des christlichen Lebensideals, der Heiligkeit, das
der historischen Größe trat seit sie das Alterthum kannten
(S. 149, Anm.). Durch einen naheliegenden Mißverstand
hielt man dann auch die Fehler für indifferent, trotz welcher
die großen Männer groß gewesen waren. Vermuthlich ge-
schah dieß fast unbewußt, denn wenn theoretische Aussagen
dafür angeführt werden sollen, so muß man sie wieder bei
den Humanisten suchen wie z. B. bei Paolo Giovio, der
den Eidbruch des Giangaleazzo Visconti, insofern dadurch
die Gründung eines Reiches ermöglicht wurde, mit dem
Beispiel des Julius Cäsar entschuldigt 2). Die großen

1) Discorsi L. I, c. 12. Auch c. 55: Italien sei verdorbener als
alle andern Länder; dann kommen zunächst Franzosen und Spanier.
2) Paul. Jov. viri illustres; Jo. Gal. Vicecomes.

ſchieden war, fehlte es nicht an ernſten Denkern, welche6. Abſchnitt.
dieſes Unglück mit der großen Sittenloſigkeit in Verbindung
brachten. Es ſind keine von jenen Bußpredigern, welche
bei jedem Volke und zu jeder Zeit über die ſchlechten Zeiten
zu klagen ſich verpflichtet glauben, ſondern ein Macchiavell
iſt es, der mitten in einer ſeiner wichtigſten Gedankenreihen 1)
es offen ausſpricht: ja, wir Italiener ſind vorzugsweiſe
irreligiös und böſe. — Ein Anderer hätte vielleicht geſagt:
wir ſind vorzugsweiſe individuell entwickelt; die Race hat
uns aus den Schranken ihrer Sitte und Religion entlaſſen,
und die äußern Geſetze verachten wir weil unſere Herrſcher
illegitim und ihre Beamten und Richter verworfene Men-
ſchen ſind. — Macchiavell ſelber ſetzt hinzu: weil die Kirche
in ihren Vertretern das übelſte Beiſpiel giebt.

Sollen wir hier noch beifügen: „weil das AlterthumEinfluß des Al-
terthums.

ungünſtig einwirkte?“ — jedenfalls bedürfte eine ſolche
Annahme ſorgfältiger Beſchränkungen. Bei den Humaniſten
(S. 269) wird man am eheſten davon reden dürfen, zumal
in Betreff ihres wüſten Sinnenlebens. Bei den Uebrigen
möchte ſich die Sache ungefähr ſo verhalten haben, daß an
die Stelle des chriſtlichen Lebensideals, der Heiligkeit, das
der hiſtoriſchen Größe trat ſeit ſie das Alterthum kannten
(S. 149, Anm.). Durch einen naheliegenden Mißverſtand
hielt man dann auch die Fehler für indifferent, trotz welcher
die großen Männer groß geweſen waren. Vermuthlich ge-
ſchah dieß faſt unbewußt, denn wenn theoretiſche Ausſagen
dafür angeführt werden ſollen, ſo muß man ſie wieder bei
den Humaniſten ſuchen wie z. B. bei Paolo Giovio, der
den Eidbruch des Giangaleazzo Visconti, inſofern dadurch
die Gründung eines Reiches ermöglicht wurde, mit dem
Beiſpiel des Julius Cäſar entſchuldigt 2). Die großen

1) Discorsi L. I, c. 12. Auch c. 55: Italien ſei verdorbener als
alle andern Länder; dann kommen zunächſt Franzoſen und Spanier.
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[429/0439] ſchieden war, fehlte es nicht an ernſten Denkern, welche dieſes Unglück mit der großen Sittenloſigkeit in Verbindung brachten. Es ſind keine von jenen Bußpredigern, welche bei jedem Volke und zu jeder Zeit über die ſchlechten Zeiten zu klagen ſich verpflichtet glauben, ſondern ein Macchiavell iſt es, der mitten in einer ſeiner wichtigſten Gedankenreihen 1) es offen ausſpricht: ja, wir Italiener ſind vorzugsweiſe irreligiös und böſe. — Ein Anderer hätte vielleicht geſagt: wir ſind vorzugsweiſe individuell entwickelt; die Race hat uns aus den Schranken ihrer Sitte und Religion entlaſſen, und die äußern Geſetze verachten wir weil unſere Herrſcher illegitim und ihre Beamten und Richter verworfene Men- ſchen ſind. — Macchiavell ſelber ſetzt hinzu: weil die Kirche in ihren Vertretern das übelſte Beiſpiel giebt. 6. Abſchnitt. Sollen wir hier noch beifügen: „weil das Alterthum ungünſtig einwirkte?“ — jedenfalls bedürfte eine ſolche Annahme ſorgfältiger Beſchränkungen. Bei den Humaniſten (S. 269) wird man am eheſten davon reden dürfen, zumal in Betreff ihres wüſten Sinnenlebens. Bei den Uebrigen möchte ſich die Sache ungefähr ſo verhalten haben, daß an die Stelle des chriſtlichen Lebensideals, der Heiligkeit, das der hiſtoriſchen Größe trat ſeit ſie das Alterthum kannten (S. 149, Anm.). Durch einen naheliegenden Mißverſtand hielt man dann auch die Fehler für indifferent, trotz welcher die großen Männer groß geweſen waren. Vermuthlich ge- ſchah dieß faſt unbewußt, denn wenn theoretiſche Ausſagen dafür angeführt werden ſollen, ſo muß man ſie wieder bei den Humaniſten ſuchen wie z. B. bei Paolo Giovio, der den Eidbruch des Giangaleazzo Visconti, inſofern dadurch die Gründung eines Reiches ermöglicht wurde, mit dem Beiſpiel des Julius Cäſar entſchuldigt 2). Die großen Einfluß des Al- terthums. 1) Discorsi L. I, c. 12. Auch c. 55: Italien ſei verdorbener als alle andern Länder; dann kommen zunächſt Franzoſen und Spanier. 2) Paul. Jov. viri illustres; Jo. Gal. Vicecomes.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/439>, abgerufen am 24.04.2024.