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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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auch manchen werthvollen Wink über den unglücklichen,4. Abschnitt.
zerfallenen Zustand um die Mitte des Jahrhunderts 1).

Wie nun diese vergleichende Betrachtung der Bevöl-
kerungen, hauptsächlich durch den italienischen Humanismus,
auf andere Nationen eingewirkt haben mag, sind wir nicht
im Stande näher nachzuweisen. Jedenfalls gehört Italien
dabei die Priorität wie bei der Cosmographie im Großen.


Allein die Entdeckung des Menschen bleibt nicht stehenSchilderung
des äußern
Menschen.

bei der geistigen Schilderung der Individuen und der Völker;
auch der äußere Mensch ist in Italien auf ganz andere
Weise das Object der Betrachtung als im Norden.

Von der Stellung der großen italienischen Aerzte zu
den Fortschritten der Physiologie wagen wir nicht zu sprechen,
und die künstlerische Ergründung der Menschengestalt ge-
hört nicht hieher sondern in die Kunstgeschichte. Wohl aber
muß hier von der allgemeinen Bildung des Auges die Rede
sein, welche in Italien ein objectives, allgültiges Urtheil
über körperliche Schönheit und Häßlichkeit möglich machte.

Fürs Erste wird man bei der aufmerksamen Lesung
der damaligen italienischen Autoren erstaunen über die Ge-
nauigkeit und Schärfe in der Bezeichnung der äußern
Züge und über die Vollständigkeit mancher Personalbeschrei-
bungen überhaupt 2). Noch heutzutage haben besonders die
Römer das Talent, einen Menschen, von dem die Rede ist,
in drei Worten kenntlich zu machen. Dieses rasche Erfassen
des Characteristischen aber ist eine wesentliche Vorbedingung
für die Erkenntniß des Schönen und für die Fähigkeit
dasselbe zu beschreiben. Bei Dichtern kann allerdings das
umständliche Beschreiben ein Fehler sein, da ein einziger
Zug, von der tiefern Leidenschaft eingegeben, im Leser ein

1) Possenhafte Aufzählungen der Städte giebt es fortan häufig; z. B.
Macaroneide, Phantas. II.
2) Ueber Filippo Villani, vgl. S. 329.

auch manchen werthvollen Wink über den unglücklichen,4. Abſchnitt.
zerfallenen Zuſtand um die Mitte des Jahrhunderts 1).

Wie nun dieſe vergleichende Betrachtung der Bevöl-
kerungen, hauptſächlich durch den italieniſchen Humanismus,
auf andere Nationen eingewirkt haben mag, ſind wir nicht
im Stande näher nachzuweiſen. Jedenfalls gehört Italien
dabei die Priorität wie bei der Cosmographie im Großen.


Allein die Entdeckung des Menſchen bleibt nicht ſtehenSchilderung
des äußern
Menſchen.

bei der geiſtigen Schilderung der Individuen und der Völker;
auch der äußere Menſch iſt in Italien auf ganz andere
Weiſe das Object der Betrachtung als im Norden.

Von der Stellung der großen italieniſchen Aerzte zu
den Fortſchritten der Phyſiologie wagen wir nicht zu ſprechen,
und die künſtleriſche Ergründung der Menſchengeſtalt ge-
hört nicht hieher ſondern in die Kunſtgeſchichte. Wohl aber
muß hier von der allgemeinen Bildung des Auges die Rede
ſein, welche in Italien ein objectives, allgültiges Urtheil
über körperliche Schönheit und Häßlichkeit möglich machte.

Fürs Erſte wird man bei der aufmerkſamen Leſung
der damaligen italieniſchen Autoren erſtaunen über die Ge-
nauigkeit und Schärfe in der Bezeichnung der äußern
Züge und über die Vollſtändigkeit mancher Perſonalbeſchrei-
bungen überhaupt 2). Noch heutzutage haben beſonders die
Römer das Talent, einen Menſchen, von dem die Rede iſt,
in drei Worten kenntlich zu machen. Dieſes raſche Erfaſſen
des Characteriſtiſchen aber iſt eine weſentliche Vorbedingung
für die Erkenntniß des Schönen und für die Fähigkeit
daſſelbe zu beſchreiben. Bei Dichtern kann allerdings das
umſtändliche Beſchreiben ein Fehler ſein, da ein einziger
Zug, von der tiefern Leidenſchaft eingegeben, im Leſer ein

1) Poſſenhafte Aufzählungen der Städte giebt es fortan häufig; z. B.
Macaroneide, Phantas. II.
2) Ueber Filippo Villani, vgl. S. 329.
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[341/0351] auch manchen werthvollen Wink über den unglücklichen, zerfallenen Zuſtand um die Mitte des Jahrhunderts 1). 4. Abſchnitt. Wie nun dieſe vergleichende Betrachtung der Bevöl- kerungen, hauptſächlich durch den italieniſchen Humanismus, auf andere Nationen eingewirkt haben mag, ſind wir nicht im Stande näher nachzuweiſen. Jedenfalls gehört Italien dabei die Priorität wie bei der Cosmographie im Großen. Allein die Entdeckung des Menſchen bleibt nicht ſtehen bei der geiſtigen Schilderung der Individuen und der Völker; auch der äußere Menſch iſt in Italien auf ganz andere Weiſe das Object der Betrachtung als im Norden. Schilderung des äußern Menſchen. Von der Stellung der großen italieniſchen Aerzte zu den Fortſchritten der Phyſiologie wagen wir nicht zu ſprechen, und die künſtleriſche Ergründung der Menſchengeſtalt ge- hört nicht hieher ſondern in die Kunſtgeſchichte. Wohl aber muß hier von der allgemeinen Bildung des Auges die Rede ſein, welche in Italien ein objectives, allgültiges Urtheil über körperliche Schönheit und Häßlichkeit möglich machte. Fürs Erſte wird man bei der aufmerkſamen Leſung der damaligen italieniſchen Autoren erſtaunen über die Ge- nauigkeit und Schärfe in der Bezeichnung der äußern Züge und über die Vollſtändigkeit mancher Perſonalbeſchrei- bungen überhaupt 2). Noch heutzutage haben beſonders die Römer das Talent, einen Menſchen, von dem die Rede iſt, in drei Worten kenntlich zu machen. Dieſes raſche Erfaſſen des Characteriſtiſchen aber iſt eine weſentliche Vorbedingung für die Erkenntniß des Schönen und für die Fähigkeit daſſelbe zu beſchreiben. Bei Dichtern kann allerdings das umſtändliche Beſchreiben ein Fehler ſein, da ein einziger Zug, von der tiefern Leidenſchaft eingegeben, im Leſer ein 1) Poſſenhafte Aufzählungen der Städte giebt es fortan häufig; z. B. Macaroneide, Phantas. II. 2) Ueber Filippo Villani, vgl. S. 329.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/351>, abgerufen am 19.04.2024.