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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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und Canzone die herrlichsten Seelenschilderungen nieder-4. Abschnitt.
gelegt. Und in welchen Rahmen sind sie eingefaßt! Die
Prosa seiner "Vita nuova", worin er Rechenschaft giebt
von dem Anlaß jedes Gedichtes, ist so wunderbar als
die Verse selbst und bildet mit denselben ein gleichmäßig
von der tiefsten Gluth beseeltes Ganzes. Rücksichtslos
gegen die Seele selbst constatirt er alle Schattirungen ihrer
Wonne und ihres Leides und prägt dann dieß Alles mit
fester Willenskraft in der strengsten Kunstform aus. Wenn
man diese Sonette und Canzonen und dazwischen diese
wundersamen Bruchstücke des Tagebuches seiner Jugend
aufmerksam liest, so scheint es als ob das ganze Mittel-
alter hindurch alle Dichter sich selber gemieden, Er zuerst
sich selber aufgesucht hätte. Künstliche Strophen haben
Unzählige vor ihm gebaut; aber Er zuerst ist in vollem
Sinne ein Künstler, weil er mit Bewußtsein unvergäng-
lichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier
ist subjective Lyrik von völlig objectiver Wahrheit und
Größe; das Meiste so durchgearbeitet, daß alle Völker und
Jahrhunderte es sich aneignen und nachempfinden können 1).
Wo er aber völlig objectiv dichtet und die Macht seines
Gefühles nur durch einen außer ihm liegenden Thatbestand
errathen läßt, wie in den grandiosen Sonetten Tanto gen-
tile
etc. und Vede perfettamente etc., glaubt er noch sich ent-
schuldigen zu müssen 2). Im Grunde gehört auch das aller-
schönste dieser Gedichte hieher: das Sonett Deh peregrini
che pensosi andate etc.

Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch
diese bloße Jugendgeschichte ein Markstein zwischen Mittel-

1) Diese Canzonen und Sonette sind es, die jener Schmied und jener
Eseltreiber sangen und entstellten, über welche Dante so böse wurde.
(Vgl. Franco Sacchetti, Nov. 114. 115.) So rasch ging diese
Poesie in den Mund des Volkes über.
2) Vita nuova, p. 52.

und Canzone die herrlichſten Seelenſchilderungen nieder-4. Abſchnitt.
gelegt. Und in welchen Rahmen ſind ſie eingefaßt! Die
Proſa ſeiner „Vita nuova“, worin er Rechenſchaft giebt
von dem Anlaß jedes Gedichtes, iſt ſo wunderbar als
die Verſe ſelbſt und bildet mit denſelben ein gleichmäßig
von der tiefſten Gluth beſeeltes Ganzes. Rückſichtslos
gegen die Seele ſelbſt conſtatirt er alle Schattirungen ihrer
Wonne und ihres Leides und prägt dann dieß Alles mit
feſter Willenskraft in der ſtrengſten Kunſtform aus. Wenn
man dieſe Sonette und Canzonen und dazwiſchen dieſe
wunderſamen Bruchſtücke des Tagebuches ſeiner Jugend
aufmerkſam liest, ſo ſcheint es als ob das ganze Mittel-
alter hindurch alle Dichter ſich ſelber gemieden, Er zuerſt
ſich ſelber aufgeſucht hätte. Künſtliche Strophen haben
Unzählige vor ihm gebaut; aber Er zuerſt iſt in vollem
Sinne ein Künſtler, weil er mit Bewußtſein unvergäng-
lichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier
iſt ſubjective Lyrik von völlig objectiver Wahrheit und
Größe; das Meiſte ſo durchgearbeitet, daß alle Völker und
Jahrhunderte es ſich aneignen und nachempfinden können 1).
Wo er aber völlig objectiv dichtet und die Macht ſeines
Gefühles nur durch einen außer ihm liegenden Thatbeſtand
errathen läßt, wie in den grandioſen Sonetten Tanto gen-
tile
ꝛc. und Vede perfettamente ꝛc., glaubt er noch ſich ent-
ſchuldigen zu müſſen 2). Im Grunde gehört auch das aller-
ſchönſte dieſer Gedichte hieher: das Sonett Deh peregrini
che pensosi andate etc.

Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch
dieſe bloße Jugendgeſchichte ein Markſtein zwiſchen Mittel-

1) Dieſe Canzonen und Sonette ſind es, die jener Schmied und jener
Eſeltreiber ſangen und entſtellten, über welche Dante ſo böſe wurde.
(Vgl. Franco Sacchetti, Nov. 114. 115.) So raſch ging dieſe
Poeſie in den Mund des Volkes über.
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[309/0319] und Canzone die herrlichſten Seelenſchilderungen nieder- gelegt. Und in welchen Rahmen ſind ſie eingefaßt! Die Proſa ſeiner „Vita nuova“, worin er Rechenſchaft giebt von dem Anlaß jedes Gedichtes, iſt ſo wunderbar als die Verſe ſelbſt und bildet mit denſelben ein gleichmäßig von der tiefſten Gluth beſeeltes Ganzes. Rückſichtslos gegen die Seele ſelbſt conſtatirt er alle Schattirungen ihrer Wonne und ihres Leides und prägt dann dieß Alles mit feſter Willenskraft in der ſtrengſten Kunſtform aus. Wenn man dieſe Sonette und Canzonen und dazwiſchen dieſe wunderſamen Bruchſtücke des Tagebuches ſeiner Jugend aufmerkſam liest, ſo ſcheint es als ob das ganze Mittel- alter hindurch alle Dichter ſich ſelber gemieden, Er zuerſt ſich ſelber aufgeſucht hätte. Künſtliche Strophen haben Unzählige vor ihm gebaut; aber Er zuerſt iſt in vollem Sinne ein Künſtler, weil er mit Bewußtſein unvergäng- lichen Inhalt in eine unvergängliche Form bildet. Hier iſt ſubjective Lyrik von völlig objectiver Wahrheit und Größe; das Meiſte ſo durchgearbeitet, daß alle Völker und Jahrhunderte es ſich aneignen und nachempfinden können 1). Wo er aber völlig objectiv dichtet und die Macht ſeines Gefühles nur durch einen außer ihm liegenden Thatbeſtand errathen läßt, wie in den grandioſen Sonetten Tanto gen- tile ꝛc. und Vede perfettamente ꝛc., glaubt er noch ſich ent- ſchuldigen zu müſſen 2). Im Grunde gehört auch das aller- ſchönſte dieſer Gedichte hieher: das Sonett Deh peregrini che pensosi andate etc. 4. Abſchnitt. Auch ohne die Divina Commedia wäre Dante durch dieſe bloße Jugendgeſchichte ein Markſtein zwiſchen Mittel- 1) Dieſe Canzonen und Sonette ſind es, die jener Schmied und jener Eſeltreiber ſangen und entſtellten, über welche Dante ſo böſe wurde. (Vgl. Franco Sacchetti, Nov. 114. 115.) So raſch ging dieſe Poeſie in den Mund des Volkes über. 2) Vita nuova, p. 52.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/319>, abgerufen am 20.04.2024.