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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.alter und neuer Zeit. Geist und Seele thun hier plötzlich
einen gewaltigen Schritt zur Erkenntniß ihres geheimsten
Lebens.

Die Commedia.Was hierauf die Commedia an solchen Offenbarungen
enthält, ist vollends unermeßlich, und wir müßten das
ganze große Gedicht, einen Gesang nach dem andern, durch-
gehen um seinen vollen Werth in dieser Beziehung darzu-
legen. Glücklicherweise bedarf es dessen nicht, da die
Commedia längst eine tägliche Speise aller abendländischen
Völker geworden ist. Ihre Anlage und Grundidee gehört
dem Mittelalter und spricht unser Bewußtsein nur historisch
an; ein Anfang aller modernen Poesie aber ist das Gedicht
wesentlich wegen des Reichthums und der hohen plastischen
Macht in der Schilderung des Geistigen auf jeder Stufe
und in jeder Wandlung 1).

Fortan mag diese Poesie ihre schwankenden Schicksale
haben und auf halbe Jahrhunderte einen sogenannten Rück-
gang zeigen -- ihr höheres Lebensprincip ist auf immer
gerettet, und wo im XIV., XV. und beginnenden XVI.
Jahrhundert ein tiefer, originaler Geist in Italien sich ihr
hingiebt, stellt er von selbst eine wesentlich höhere Potenz
dar als irgend ein außeritalischer Dichter, wenn man
Gleichheit der Begabung -- freilich eine schwer zu ermit-
telnde Sache -- voraussetzt.

Priorität der
Bildung vor der
Kunst.
Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung
(wozu die Poesie gehört) der bildenden Kunst vorangeht,
ja dieselbe erst wesentlich anregen hilft, so auch hier. Es
dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geistig-Bewegte,
das Seelenleben in Sculptur und Malerei einen Ausdruck
erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog
ist. Wie viel oder wie wenig dieß von der Kunstentwick-

1) Für Dante's theoretische Psychologie ist Purgat. IV, Anfang, eine
der wichtigsten Stellen. Außerdem vgl. die betreffenden Partien
des Convito.

4. Abſchnitt.alter und neuer Zeit. Geiſt und Seele thun hier plötzlich
einen gewaltigen Schritt zur Erkenntniß ihres geheimſten
Lebens.

Die Commedia.Was hierauf die Commedia an ſolchen Offenbarungen
enthält, iſt vollends unermeßlich, und wir müßten das
ganze große Gedicht, einen Geſang nach dem andern, durch-
gehen um ſeinen vollen Werth in dieſer Beziehung darzu-
legen. Glücklicherweiſe bedarf es deſſen nicht, da die
Commedia längſt eine tägliche Speiſe aller abendländiſchen
Völker geworden iſt. Ihre Anlage und Grundidee gehört
dem Mittelalter und ſpricht unſer Bewußtſein nur hiſtoriſch
an; ein Anfang aller modernen Poeſie aber iſt das Gedicht
weſentlich wegen des Reichthums und der hohen plaſtiſchen
Macht in der Schilderung des Geiſtigen auf jeder Stufe
und in jeder Wandlung 1).

Fortan mag dieſe Poeſie ihre ſchwankenden Schickſale
haben und auf halbe Jahrhunderte einen ſogenannten Rück-
gang zeigen — ihr höheres Lebensprincip iſt auf immer
gerettet, und wo im XIV., XV. und beginnenden XVI.
Jahrhundert ein tiefer, originaler Geiſt in Italien ſich ihr
hingiebt, ſtellt er von ſelbſt eine weſentlich höhere Potenz
dar als irgend ein außeritaliſcher Dichter, wenn man
Gleichheit der Begabung — freilich eine ſchwer zu ermit-
telnde Sache — vorausſetzt.

Priorität der
Bildung vor der
Kunſt.
Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung
(wozu die Poeſie gehört) der bildenden Kunſt vorangeht,
ja dieſelbe erſt weſentlich anregen hilft, ſo auch hier. Es
dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geiſtig-Bewegte,
das Seelenleben in Sculptur und Malerei einen Ausdruck
erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog
iſt. Wie viel oder wie wenig dieß von der Kunſtentwick-

1) Für Dante's theoretiſche Pſychologie iſt Purgat. IV, Anfang, eine
der wichtigſten Stellen. Außerdem vgl. die betreffenden Partien
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[310/0320] alter und neuer Zeit. Geiſt und Seele thun hier plötzlich einen gewaltigen Schritt zur Erkenntniß ihres geheimſten Lebens. 4. Abſchnitt. Was hierauf die Commedia an ſolchen Offenbarungen enthält, iſt vollends unermeßlich, und wir müßten das ganze große Gedicht, einen Geſang nach dem andern, durch- gehen um ſeinen vollen Werth in dieſer Beziehung darzu- legen. Glücklicherweiſe bedarf es deſſen nicht, da die Commedia längſt eine tägliche Speiſe aller abendländiſchen Völker geworden iſt. Ihre Anlage und Grundidee gehört dem Mittelalter und ſpricht unſer Bewußtſein nur hiſtoriſch an; ein Anfang aller modernen Poeſie aber iſt das Gedicht weſentlich wegen des Reichthums und der hohen plaſtiſchen Macht in der Schilderung des Geiſtigen auf jeder Stufe und in jeder Wandlung 1). Die Commedia. Fortan mag dieſe Poeſie ihre ſchwankenden Schickſale haben und auf halbe Jahrhunderte einen ſogenannten Rück- gang zeigen — ihr höheres Lebensprincip iſt auf immer gerettet, und wo im XIV., XV. und beginnenden XVI. Jahrhundert ein tiefer, originaler Geiſt in Italien ſich ihr hingiebt, ſtellt er von ſelbſt eine weſentlich höhere Potenz dar als irgend ein außeritaliſcher Dichter, wenn man Gleichheit der Begabung — freilich eine ſchwer zu ermit- telnde Sache — vorausſetzt. Wie in allen Dingen bei den Italienern die Bildung (wozu die Poeſie gehört) der bildenden Kunſt vorangeht, ja dieſelbe erſt weſentlich anregen hilft, ſo auch hier. Es dauert mehr als ein Jahrhundert, bis das Geiſtig-Bewegte, das Seelenleben in Sculptur und Malerei einen Ausdruck erreicht, welcher demjenigen bei Dante nur irgendwie analog iſt. Wie viel oder wie wenig dieß von der Kunſtentwick- Priorität der Bildung vor der Kunſt. 1) Für Dante's theoretiſche Pſychologie iſt Purgat. IV, Anfang, eine der wichtigſten Stellen. Außerdem vgl. die betreffenden Partien des Convito.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/320>, abgerufen am 19.04.2024.