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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.wenn auch nur bedingter Begabung, die sonst in einer
weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genöthigt ihre
Empfindungen zu concentriren. Das Sonett wurde ein
allgemeingültiger Condensator der Gedanken und Empfin-
dungen wie ihn die Poesie keines andern modernen Volkes
besitzt.

So tritt uns nun die italienische Gefühlswelt in einer
Menge von höchst entschiedenen, gedrängten und in ihrer
Kürze höchst wirksamen Bildern entgegen. Hätten andere
Völker eine conventionelle Form von dieser Gattung be-
sessen, so wüßten wir vielleicht auch mehr von ihrem See-
lenleben; wir besäßen möglicherweise auch eine Reihe ab-
geschlossener Darstellungen äußerer und innerer Situationen
oder Spiegelbilder des Gemüthes und wären nicht auf eine
vorgebliche Lyrik des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts verwiesen, die fast nirgends ernstlich genießbar
ist. Bei den Italienern erkennt man einen sichern Fort-
schritt fast von der Geburt des Sonettes an; in der zwei-
ten Hälfte des XIII. Jahrhunderts bilden die neuerlich 1)
so benannten "Trovatori della transizione" in der That
einen Uebergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h.
zu den Dichtern unter antikem Einfluß; die einfache, starke
Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der
präcise Ausdruck und Abschluß in ihren Sonetten u. a. Ge-
dichten kündet zum Voraus einen Dante an. Einige Par-
teisonette der Guelfen und Ghibellinen (1260--1270) tönen
schon in der Art wie seine Leidenschaft, Anderes erinnert
an das Süßeste in seiner Lyrik.

Dante
als Seelen-
schilderer.
Wie er selbst das Sonett theoretisch ansah, wissen wir
nur deßhalb nicht, weil die letzten Bücher seiner Schrift
"von der Vulgärsprache", worin er von Balladen und So-
netten handeln wollte, entweder ungeschrieben geblieben oder
verloren gegangen sind. Practisch aber hat er in Sonett

1) Trucchi, a. a. O. I, p. 181, s.

4. Abſchnitt.wenn auch nur bedingter Begabung, die ſonſt in einer
weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genöthigt ihre
Empfindungen zu concentriren. Das Sonett wurde ein
allgemeingültiger Condenſator der Gedanken und Empfin-
dungen wie ihn die Poeſie keines andern modernen Volkes
beſitzt.

So tritt uns nun die italieniſche Gefühlswelt in einer
Menge von höchſt entſchiedenen, gedrängten und in ihrer
Kürze höchſt wirkſamen Bildern entgegen. Hätten andere
Völker eine conventionelle Form von dieſer Gattung be-
ſeſſen, ſo wüßten wir vielleicht auch mehr von ihrem See-
lenleben; wir beſäßen möglicherweiſe auch eine Reihe ab-
geſchloſſener Darſtellungen äußerer und innerer Situationen
oder Spiegelbilder des Gemüthes und wären nicht auf eine
vorgebliche Lyrik des vierzehnten und fünfzehnten Jahr-
hunderts verwieſen, die faſt nirgends ernſtlich genießbar
iſt. Bei den Italienern erkennt man einen ſichern Fort-
ſchritt faſt von der Geburt des Sonettes an; in der zwei-
ten Hälfte des XIII. Jahrhunderts bilden die neuerlich 1)
ſo benannten „Trovatori della transizione“ in der That
einen Uebergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h.
zu den Dichtern unter antikem Einfluß; die einfache, ſtarke
Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der
präciſe Ausdruck und Abſchluß in ihren Sonetten u. a. Ge-
dichten kündet zum Voraus einen Dante an. Einige Par-
teiſonette der Guelfen und Ghibellinen (1260—1270) tönen
ſchon in der Art wie ſeine Leidenſchaft, Anderes erinnert
an das Süßeſte in ſeiner Lyrik.

Dante
als Seelen-
ſchilderer.
Wie er ſelbſt das Sonett theoretiſch anſah, wiſſen wir
nur deßhalb nicht, weil die letzten Bücher ſeiner Schrift
„von der Vulgärſprache“, worin er von Balladen und So-
netten handeln wollte, entweder ungeſchrieben geblieben oder
verloren gegangen ſind. Practiſch aber hat er in Sonett

1) Trucchi, a. a. O. I, p. 181, s.
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[308/0318] wenn auch nur bedingter Begabung, die ſonſt in einer weitläufigen Lyrik untergegangen wären, genöthigt ihre Empfindungen zu concentriren. Das Sonett wurde ein allgemeingültiger Condenſator der Gedanken und Empfin- dungen wie ihn die Poeſie keines andern modernen Volkes beſitzt. 4. Abſchnitt. So tritt uns nun die italieniſche Gefühlswelt in einer Menge von höchſt entſchiedenen, gedrängten und in ihrer Kürze höchſt wirkſamen Bildern entgegen. Hätten andere Völker eine conventionelle Form von dieſer Gattung be- ſeſſen, ſo wüßten wir vielleicht auch mehr von ihrem See- lenleben; wir beſäßen möglicherweiſe auch eine Reihe ab- geſchloſſener Darſtellungen äußerer und innerer Situationen oder Spiegelbilder des Gemüthes und wären nicht auf eine vorgebliche Lyrik des vierzehnten und fünfzehnten Jahr- hunderts verwieſen, die faſt nirgends ernſtlich genießbar iſt. Bei den Italienern erkennt man einen ſichern Fort- ſchritt faſt von der Geburt des Sonettes an; in der zwei- ten Hälfte des XIII. Jahrhunderts bilden die neuerlich 1) ſo benannten „Trovatori della transizione“ in der That einen Uebergang von den Trovatoren zu den Poeten, d. h. zu den Dichtern unter antikem Einfluß; die einfache, ſtarke Empfindung, die kräftige Bezeichnung der Situation, der präciſe Ausdruck und Abſchluß in ihren Sonetten u. a. Ge- dichten kündet zum Voraus einen Dante an. Einige Par- teiſonette der Guelfen und Ghibellinen (1260—1270) tönen ſchon in der Art wie ſeine Leidenſchaft, Anderes erinnert an das Süßeſte in ſeiner Lyrik. Wie er ſelbſt das Sonett theoretiſch anſah, wiſſen wir nur deßhalb nicht, weil die letzten Bücher ſeiner Schrift „von der Vulgärſprache“, worin er von Balladen und So- netten handeln wollte, entweder ungeſchrieben geblieben oder verloren gegangen ſind. Practiſch aber hat er in Sonett Dante als Seelen- ſchilderer. 1) Trucchi, a. a. O. I, p. 181, s.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/318>, abgerufen am 19.04.2024.