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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Er denkt: was an einem königlichen Greise nicht getadelt4. Abschnitt.
werde, sei auch bei einem jungen Manne aus dem Privat-
stande wohl zu entschuldigen. Planloses Bergsteigen war
nämlich in seiner Umgebung etwas Unerhörtes und an die
Begleitung von Freunden oder Bekannten war nicht zu
denken. Petrarca nahm nur seinen jüngern Bruder und
vom letzten Rastort aus zwei Landleute mit. Am Gebirge
beschwor sie ein alter Hirte umzukehren; er habe vor fünf-
zig Jahren dasselbe versucht und nichts als Reue, zerschlagene
Glieder und zerfetzte Kleider heimgebracht; vorher und seit-
dem habe sich Niemand mehr des Weges unterstanden.
Allein sie dringen mit unsäglicher Mühe weiter empor, bis
die Wolken unter ihren Füßen schweben, und erreichen den
Gipfel. Eine Beschreibung der Aussicht erwartet man nun
allerdings vergebens, aber nicht weil der Dichter dagegen
unempfindlich wäre, sondern im Gegentheil, weil der Ein-
druck allzugewaltig auf ihn wirkt. Vor seine Seele tritt
sein ganzes vergangenes Leben mit allen Thorheiten; er
erinnert sich, daß es heut zehn Jahre sind, seit er jung
aus Bologna gezogen, und wendet einen sehnsüchtigen Blick
in der Richtung gen Italien hin; er schlägt ein Büchlein
auf, das damals sein Begleiter war, die Bekenntnisse des
heil. Augustin -- allein siehe, sein Auge fällt auf die
Stelle im zehnten Abschnitt: "und da gehen die Menschen
"hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluthen
"und mächtig daherrauschende Ströme und den Ocean und
"den Lauf der Gestirne und verlassen sich selbst darob".
Sein Bruder, dem er diese Worte vorliest, kann nicht be-
greifen, warum er hierauf das Buch schließt und schweigt.

Einige Jahrzehnde später, um 1360, schildert FazioDer
Dittamondo.

degli Uberti in seiner gereimten Cosmographie 1) (S. 177)
die weite Aussicht vom Gebirge Alvernia zwar nur mit der
Theilnahme des Geographen und Antiquars, doch deutlich

1) Il Dittamondo, III, cap. 9.

Er denkt: was an einem königlichen Greiſe nicht getadelt4. Abſchnitt.
werde, ſei auch bei einem jungen Manne aus dem Privat-
ſtande wohl zu entſchuldigen. Planloſes Bergſteigen war
nämlich in ſeiner Umgebung etwas Unerhörtes und an die
Begleitung von Freunden oder Bekannten war nicht zu
denken. Petrarca nahm nur ſeinen jüngern Bruder und
vom letzten Raſtort aus zwei Landleute mit. Am Gebirge
beſchwor ſie ein alter Hirte umzukehren; er habe vor fünf-
zig Jahren daſſelbe verſucht und nichts als Reue, zerſchlagene
Glieder und zerfetzte Kleider heimgebracht; vorher und ſeit-
dem habe ſich Niemand mehr des Weges unterſtanden.
Allein ſie dringen mit unſäglicher Mühe weiter empor, bis
die Wolken unter ihren Füßen ſchweben, und erreichen den
Gipfel. Eine Beſchreibung der Ausſicht erwartet man nun
allerdings vergebens, aber nicht weil der Dichter dagegen
unempfindlich wäre, ſondern im Gegentheil, weil der Ein-
druck allzugewaltig auf ihn wirkt. Vor ſeine Seele tritt
ſein ganzes vergangenes Leben mit allen Thorheiten; er
erinnert ſich, daß es heut zehn Jahre ſind, ſeit er jung
aus Bologna gezogen, und wendet einen ſehnſüchtigen Blick
in der Richtung gen Italien hin; er ſchlägt ein Büchlein
auf, das damals ſein Begleiter war, die Bekenntniſſe des
heil. Auguſtin — allein ſiehe, ſein Auge fällt auf die
Stelle im zehnten Abſchnitt: „und da gehen die Menſchen
„hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluthen
„und mächtig daherrauſchende Ströme und den Ocean und
„den Lauf der Geſtirne und verlaſſen ſich ſelbſt darob“.
Sein Bruder, dem er dieſe Worte vorliest, kann nicht be-
greifen, warum er hierauf das Buch ſchließt und ſchweigt.

Einige Jahrzehnde ſpäter, um 1360, ſchildert FazioDer
Dittamondo.

degli Uberti in ſeiner gereimten Cosmographie 1) (S. 177)
die weite Ausſicht vom Gebirge Alvernia zwar nur mit der
Theilnahme des Geographen und Antiquars, doch deutlich

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[297/0307] Er denkt: was an einem königlichen Greiſe nicht getadelt werde, ſei auch bei einem jungen Manne aus dem Privat- ſtande wohl zu entſchuldigen. Planloſes Bergſteigen war nämlich in ſeiner Umgebung etwas Unerhörtes und an die Begleitung von Freunden oder Bekannten war nicht zu denken. Petrarca nahm nur ſeinen jüngern Bruder und vom letzten Raſtort aus zwei Landleute mit. Am Gebirge beſchwor ſie ein alter Hirte umzukehren; er habe vor fünf- zig Jahren daſſelbe verſucht und nichts als Reue, zerſchlagene Glieder und zerfetzte Kleider heimgebracht; vorher und ſeit- dem habe ſich Niemand mehr des Weges unterſtanden. Allein ſie dringen mit unſäglicher Mühe weiter empor, bis die Wolken unter ihren Füßen ſchweben, und erreichen den Gipfel. Eine Beſchreibung der Ausſicht erwartet man nun allerdings vergebens, aber nicht weil der Dichter dagegen unempfindlich wäre, ſondern im Gegentheil, weil der Ein- druck allzugewaltig auf ihn wirkt. Vor ſeine Seele tritt ſein ganzes vergangenes Leben mit allen Thorheiten; er erinnert ſich, daß es heut zehn Jahre ſind, ſeit er jung aus Bologna gezogen, und wendet einen ſehnſüchtigen Blick in der Richtung gen Italien hin; er ſchlägt ein Büchlein auf, das damals ſein Begleiter war, die Bekenntniſſe des heil. Auguſtin — allein ſiehe, ſein Auge fällt auf die Stelle im zehnten Abſchnitt: „und da gehen die Menſchen „hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluthen „und mächtig daherrauſchende Ströme und den Ocean und „den Lauf der Geſtirne und verlaſſen ſich ſelbſt darob“. Sein Bruder, dem er dieſe Worte vorliest, kann nicht be- greifen, warum er hierauf das Buch ſchließt und ſchweigt. 4. Abſchnitt. Einige Jahrzehnde ſpäter, um 1360, ſchildert Fazio degli Uberti in ſeiner gereimten Cosmographie 1) (S. 177) die weite Ausſicht vom Gebirge Alvernia zwar nur mit der Theilnahme des Geographen und Antiquars, doch deutlich Der Dittamondo. 1) Il Dittamondo, III, cap. 9.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/307>, abgerufen am 29.03.2024.