Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite
I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.

Wie könnte auch der Gesetzgeber ausdrückliche Abreden
zulassen, die er selbst als unbillig bezeichnet? Z. B. die Abrede,
des Verkaufs auf Kredit, während die Erfüllung Zug um Zug als
das Billige erkannt worden wäre? Oder das verzinsliche (nicht-
kaufmännische) Darlehen, während er selbst das unverzinsliche
als das Billige erklärt hätte für alle Fälle, wo durch einen glück-
lichen Zufall die Parteien darüber nichts sagen? Kann der Gesetz-
geber unbillige Abreden gelten lassen? Verträge, von den er zum
voraus sagen kann, daß sie unbillig und daher auch nicht zu
billigen sind?

Er verbietet doch und erklärt ungültig leoninische Gesell-
schaftsverträge. Kann es vom Zufall des Parteiwillens abhängen,
ob das, was unbillig ist, gelten soll oder nicht?

Das ergänzende Vertragsrecht kann also im Grundsatz1 nur
als eine nicht von der Rechtsidee getragene, sondern selbst will-
kürliche Ergänzung eines willkürlich verabredeten Anfangs be-
trachtet werden. Eine Ergänzung, die notwendig ist, wenn nicht
eine echte Lücke entstehen soll (vgl. unten S. 108), deren Inhalt
aber stets willkürlich bleiben wird und die ja auch von den Parteien
nach Belieben angenommen oder verworfen werden kann. Das
ergänzende Vertragsrecht des Gesetzes kann also nur verwendet
werden, wenn zu vermuten ist, daß es die Parteien tatsächlich
so halten wollen, wie es das Gesetz vorsieht; und dafür mag in
der Tat die Vermutung sprechen, wenn die Parteien nichts gesagt
haben; aber auch das ist eine Tatfrage2

1 Das schließt nicht aus, daß der Gesetzgeber durch seine Bestim-
mungen gewisse technische Vorzüge zu verwirklichen suchen kann: z. B.
größere Klarheit; oder daß er auch gewisse Klauseln zurückdrängt, die
tatsächlich oft unbillig und mißbräuchlich sind.
2 Die praktischen Folgen dieser Auffassung sind u. a. daß die Nicht-
anwendung dieser ergänzenden Rechtssätze keinen Rechtsirrtum aus-
machen; denn ob die Parteien tatsächlich, vielleicht stillschweigend oder
gemäß richtiger "Auslegung" der gegebenen Vertragsinhaltes etwas anderes
gewollt haben, als was im Gesetze steht, ist eine Tatfrage; was aber das
Gesetz vorschreibe für den andern Fall, ist allerdings eine Frage des Rechts;
aber ob die Parteien solchen Inhalt, wie ihn das richtig ausgelegte Gesetz
ergänzungsweise vorschlägt, mutmaßlich haben wollten, und das ist die
Hauptfrage, ist immer eine Tatfrage. Nur muß sie der Richter auch so
stellen und beantworten. -- Ferner: Zur Ergänzung eines unvollständigen
Vertrages wird immer das Gesetz heranzuziehen sein, das zur Zeit des
I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.

Wie könnte auch der Gesetzgeber ausdrückliche Abreden
zulassen, die er selbst als unbillig bezeichnet? Z. B. die Abrede,
des Verkaufs auf Kredit, während die Erfüllung Zug um Zug als
das Billige erkannt worden wäre? Oder das verzinsliche (nicht-
kaufmännische) Darlehen, während er selbst das unverzinsliche
als das Billige erklärt hätte für alle Fälle, wo durch einen glück-
lichen Zufall die Parteien darüber nichts sagen? Kann der Gesetz-
geber unbillige Abreden gelten lassen? Verträge, von den er zum
voraus sagen kann, daß sie unbillig und daher auch nicht zu
billigen sind?

Er verbietet doch und erklärt ungültig leoninische Gesell-
schaftsverträge. Kann es vom Zufall des Parteiwillens abhängen,
ob das, was unbillig ist, gelten soll oder nicht?

Das ergänzende Vertragsrecht kann also im Grundsatz1 nur
als eine nicht von der Rechtsidee getragene, sondern selbst will-
kürliche Ergänzung eines willkürlich verabredeten Anfangs be-
trachtet werden. Eine Ergänzung, die notwendig ist, wenn nicht
eine echte Lücke entstehen soll (vgl. unten S. 108), deren Inhalt
aber stets willkürlich bleiben wird und die ja auch von den Parteien
nach Belieben angenommen oder verworfen werden kann. Das
ergänzende Vertragsrecht des Gesetzes kann also nur verwendet
werden, wenn zu vermuten ist, daß es die Parteien tatsächlich
so halten wollen, wie es das Gesetz vorsieht; und dafür mag in
der Tat die Vermutung sprechen, wenn die Parteien nichts gesagt
haben; aber auch das ist eine Tatfrage2

1 Das schließt nicht aus, daß der Gesetzgeber durch seine Bestim-
mungen gewisse technische Vorzüge zu verwirklichen suchen kann: z. B.
größere Klarheit; oder daß er auch gewisse Klauseln zurückdrängt, die
tatsächlich oft unbillig und mißbräuchlich sind.
2 Die praktischen Folgen dieser Auffassung sind u. a. daß die Nicht-
anwendung dieser ergänzenden Rechtssätze keinen Rechtsirrtum aus-
machen; denn ob die Parteien tatsächlich, vielleicht stillschweigend oder
gemäß richtiger „Auslegung“ der gegebenen Vertragsinhaltes etwas anderes
gewollt haben, als was im Gesetze steht, ist eine Tatfrage; was aber das
Gesetz vorschreibe für den andern Fall, ist allerdings eine Frage des Rechts;
aber ob die Parteien solchen Inhalt, wie ihn das richtig ausgelegte Gesetz
ergänzungsweise vorschlägt, mutmaßlich haben wollten, und das ist die
Hauptfrage, ist immer eine Tatfrage. Nur muß sie der Richter auch so
stellen und beantworten. — Ferner: Zur Ergänzung eines unvollständigen
Vertrages wird immer das Gesetz heranzuziehen sein, das zur Zeit des
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0057" n="42"/>
            <fw place="top" type="header">I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.</fw><lb/>
            <p>Wie könnte auch der Gesetzgeber ausdrückliche Abreden<lb/>
zulassen, die er selbst als unbillig bezeichnet? Z. B. die Abrede,<lb/>
des Verkaufs auf Kredit, während die Erfüllung Zug um Zug als<lb/>
das Billige erkannt worden wäre? Oder das verzinsliche (nicht-<lb/>
kaufmännische) Darlehen, während er selbst das unverzinsliche<lb/>
als <hi rendition="#g">das</hi> Billige erklärt hätte für alle Fälle, wo durch einen glück-<lb/>
lichen Zufall die Parteien darüber nichts sagen? Kann der Gesetz-<lb/>
geber unbillige Abreden gelten lassen? Verträge, von den er zum<lb/>
voraus sagen kann, daß sie unbillig und daher auch nicht zu<lb/>
billigen sind?</p><lb/>
            <p>Er verbietet doch und erklärt ungültig leoninische Gesell-<lb/>
schaftsverträge. Kann es vom Zufall des Parteiwillens abhängen,<lb/>
ob das, was unbillig ist, gelten soll oder nicht?</p><lb/>
            <p>Das ergänzende Vertragsrecht kann also im Grundsatz<note place="foot" n="1">Das schließt nicht aus, daß der Gesetzgeber durch seine Bestim-<lb/>
mungen gewisse technische Vorzüge zu verwirklichen suchen kann: z. B.<lb/>
größere Klarheit; oder daß er auch gewisse Klauseln zurückdrängt, die<lb/><hi rendition="#g">tatsächlich</hi> oft unbillig und mißbräuchlich sind.</note> nur<lb/>
als eine nicht von der Rechtsidee getragene, sondern selbst will-<lb/>
kürliche Ergänzung eines willkürlich verabredeten Anfangs be-<lb/>
trachtet werden. Eine Ergänzung, die notwendig ist, wenn nicht<lb/>
eine echte Lücke entstehen soll (vgl. unten S. 108), deren Inhalt<lb/>
aber stets willkürlich bleiben wird und die ja auch von den Parteien<lb/>
nach Belieben angenommen oder verworfen werden kann. Das<lb/>
ergänzende Vertragsrecht des Gesetzes kann also nur verwendet<lb/>
werden, wenn zu vermuten ist, daß es die Parteien tatsächlich<lb/>
so halten wollen, wie es das Gesetz vorsieht; und dafür mag in<lb/>
der Tat die Vermutung sprechen, wenn die Parteien nichts gesagt<lb/>
haben; aber auch das ist eine Tatfrage<note xml:id="seg2pn_9_1" next="#seg2pn_9_2" place="foot" n="2">Die praktischen Folgen dieser Auffassung sind u. a. daß die Nicht-<lb/>
anwendung dieser ergänzenden Rechtssätze keinen <hi rendition="#g">Rechts</hi>irrtum aus-<lb/>
machen; denn ob die Parteien tatsächlich, vielleicht stillschweigend oder<lb/>
gemäß richtiger &#x201E;Auslegung&#x201C; der gegebenen Vertragsinhaltes etwas anderes<lb/>
gewollt haben, als was im Gesetze steht, ist eine Tatfrage; was aber das<lb/>
Gesetz vorschreibe für den andern Fall, ist allerdings eine Frage des Rechts;<lb/>
aber ob die Parteien <hi rendition="#g">solchen</hi> Inhalt, wie ihn das richtig ausgelegte Gesetz<lb/>
ergänzungsweise vorschlägt, mutmaßlich haben wollten, und das ist die<lb/>
Hauptfrage, ist immer eine Tatfrage. Nur muß sie der Richter auch so<lb/>
stellen und beantworten. &#x2014; Ferner: Zur Ergänzung eines unvollständigen<lb/>
Vertrages wird immer <hi rendition="#g">das</hi> Gesetz heranzuziehen sein, das zur Zeit des</note></p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0057] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. Wie könnte auch der Gesetzgeber ausdrückliche Abreden zulassen, die er selbst als unbillig bezeichnet? Z. B. die Abrede, des Verkaufs auf Kredit, während die Erfüllung Zug um Zug als das Billige erkannt worden wäre? Oder das verzinsliche (nicht- kaufmännische) Darlehen, während er selbst das unverzinsliche als das Billige erklärt hätte für alle Fälle, wo durch einen glück- lichen Zufall die Parteien darüber nichts sagen? Kann der Gesetz- geber unbillige Abreden gelten lassen? Verträge, von den er zum voraus sagen kann, daß sie unbillig und daher auch nicht zu billigen sind? Er verbietet doch und erklärt ungültig leoninische Gesell- schaftsverträge. Kann es vom Zufall des Parteiwillens abhängen, ob das, was unbillig ist, gelten soll oder nicht? Das ergänzende Vertragsrecht kann also im Grundsatz 1 nur als eine nicht von der Rechtsidee getragene, sondern selbst will- kürliche Ergänzung eines willkürlich verabredeten Anfangs be- trachtet werden. Eine Ergänzung, die notwendig ist, wenn nicht eine echte Lücke entstehen soll (vgl. unten S. 108), deren Inhalt aber stets willkürlich bleiben wird und die ja auch von den Parteien nach Belieben angenommen oder verworfen werden kann. Das ergänzende Vertragsrecht des Gesetzes kann also nur verwendet werden, wenn zu vermuten ist, daß es die Parteien tatsächlich so halten wollen, wie es das Gesetz vorsieht; und dafür mag in der Tat die Vermutung sprechen, wenn die Parteien nichts gesagt haben; aber auch das ist eine Tatfrage 2 1 Das schließt nicht aus, daß der Gesetzgeber durch seine Bestim- mungen gewisse technische Vorzüge zu verwirklichen suchen kann: z. B. größere Klarheit; oder daß er auch gewisse Klauseln zurückdrängt, die tatsächlich oft unbillig und mißbräuchlich sind. 2 Die praktischen Folgen dieser Auffassung sind u. a. daß die Nicht- anwendung dieser ergänzenden Rechtssätze keinen Rechtsirrtum aus- machen; denn ob die Parteien tatsächlich, vielleicht stillschweigend oder gemäß richtiger „Auslegung“ der gegebenen Vertragsinhaltes etwas anderes gewollt haben, als was im Gesetze steht, ist eine Tatfrage; was aber das Gesetz vorschreibe für den andern Fall, ist allerdings eine Frage des Rechts; aber ob die Parteien solchen Inhalt, wie ihn das richtig ausgelegte Gesetz ergänzungsweise vorschlägt, mutmaßlich haben wollten, und das ist die Hauptfrage, ist immer eine Tatfrage. Nur muß sie der Richter auch so stellen und beantworten. — Ferner: Zur Ergänzung eines unvollständigen Vertrages wird immer das Gesetz heranzuziehen sein, das zur Zeit des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/57
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/57>, abgerufen am 04.05.2024.