Die privatrechtlichen Normen sind also zweierlei Art: sie wollen entweder, für den Fall, daß ein Rechtsgeschäft abgeschlossen worden ist, aber ein unvollständiges, den Willen der Parteien er- gänzen, wie die eben betrachteten Normen des Obligationenrechts; oder sie wollen gelten mangels eines Rechtsgeschäftes und bilden dann nicht nur die der rechtsgeschäftlichen subsidiäre Ordnung, sondern auch die Grundlage und den Ausgangspunkt der Rechts- geschäfte selbst. Alles Privatrecht steht also mit der rechts- geschäftlichen Verfügung in begrifflichem Zusammenhang; es bildet entweder den Ausgangspunkt oder die Ergänzung rechts- geschäftlicher Regelung.
B. Wenden wir uns nun dem öffentlichen Recht im gewöhn- lichen Sinne des Wortes zu, so begegnen wir Zweifeln in entgegen- gesetzter Rechnung. Es scheint hier durchaus nicht alles zwingend zu sein, und es scheint auch das Rechtsgeschäft nicht verbannt zu sein. Man hält in der Tat der zwingenden Natur des öffent- lichen Rechts entgegen einerseits die verbreitete Erscheinung des freien Ermessens und anderseits das nicht seltene Vorkommen publizistischer Rechtsgeschäfte. Sehen wir zu.
Das Ermessen, das das Gesetz den Verwaltungsbehörden, aber in minderem Maße auch den Gerichten, läßt, bedeutet eine gewisse Freiheit der Entscheidung, frei nämlich von positiven gesetzlichen Normen. Die Freiheit kann sich aber auf zweierlei beziehen: auf die Wahl technischer Mittel und auf die Wahl des dem Einzel- fall zugrunde zu legenden Rechtssatzes. Wenn zum Beispiel die Gesundheitsbehörde vom Gesetz angewiesen wird, die zur Ab- haltung der Pockengefahr geeigneten Maßnahmen zu treffen, so wird damit gemeint sein, daß sie entscheiden soll, welche tech- nischen Mittel nach Aussage medizinischer Fachmänner die er- wünschte Wirkung haben, vielleicht aber auch, daß sie entscheiden solle, wann es am Platze ist, eines dieser Mittel anzuwenden. Das erste ist eine technische Aufgabe, das zweite eine Frage ver- nünftiger Abwägung der Interessen, also eine rechtliche, oder genauer: rechtspolitische Aufgabe. Es gibt also ein technisches
Abschlusses gegolten hat, auf das sich also die Parteien stillschweigend bezogen haben werden, wenn sie nichts gesagt haben; nicht das später erlassene Gesetz, das sie nicht kennen konnten.
Zwingendes und nichtzwingendes Recht.
Die privatrechtlichen Normen sind also zweierlei Art: sie wollen entweder, für den Fall, daß ein Rechtsgeschäft abgeschlossen worden ist, aber ein unvollständiges, den Willen der Parteien er- gänzen, wie die eben betrachteten Normen des Obligationenrechts; oder sie wollen gelten mangels eines Rechtsgeschäftes und bilden dann nicht nur die der rechtsgeschäftlichen subsidiäre Ordnung, sondern auch die Grundlage und den Ausgangspunkt der Rechts- geschäfte selbst. Alles Privatrecht steht also mit der rechts- geschäftlichen Verfügung in begrifflichem Zusammenhang; es bildet entweder den Ausgangspunkt oder die Ergänzung rechts- geschäftlicher Regelung.
B. Wenden wir uns nun dem öffentlichen Recht im gewöhn- lichen Sinne des Wortes zu, so begegnen wir Zweifeln in entgegen- gesetzter Rechnung. Es scheint hier durchaus nicht alles zwingend zu sein, und es scheint auch das Rechtsgeschäft nicht verbannt zu sein. Man hält in der Tat der zwingenden Natur des öffent- lichen Rechts entgegen einerseits die verbreitete Erscheinung des freien Ermessens und anderseits das nicht seltene Vorkommen publizistischer Rechtsgeschäfte. Sehen wir zu.
Das Ermessen, das das Gesetz den Verwaltungsbehörden, aber in minderem Maße auch den Gerichten, läßt, bedeutet eine gewisse Freiheit der Entscheidung, frei nämlich von positiven gesetzlichen Normen. Die Freiheit kann sich aber auf zweierlei beziehen: auf die Wahl technischer Mittel und auf die Wahl des dem Einzel- fall zugrunde zu legenden Rechtssatzes. Wenn zum Beispiel die Gesundheitsbehörde vom Gesetz angewiesen wird, die zur Ab- haltung der Pockengefahr geeigneten Maßnahmen zu treffen, so wird damit gemeint sein, daß sie entscheiden soll, welche tech- nischen Mittel nach Aussage medizinischer Fachmänner die er- wünschte Wirkung haben, vielleicht aber auch, daß sie entscheiden solle, wann es am Platze ist, eines dieser Mittel anzuwenden. Das erste ist eine technische Aufgabe, das zweite eine Frage ver- nünftiger Abwägung der Interessen, also eine rechtliche, oder genauer: rechtspolitische Aufgabe. Es gibt also ein technisches
Abschlusses gegolten hat, auf das sich also die Parteien stillschweigend bezogen haben werden, wenn sie nichts gesagt haben; nicht das später erlassene Gesetz, das sie nicht kennen konnten.
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[[43]/0058]
Zwingendes und nichtzwingendes Recht.
Die privatrechtlichen Normen sind also zweierlei Art: sie
wollen entweder, für den Fall, daß ein Rechtsgeschäft abgeschlossen
worden ist, aber ein unvollständiges, den Willen der Parteien er-
gänzen, wie die eben betrachteten Normen des Obligationenrechts;
oder sie wollen gelten mangels eines Rechtsgeschäftes und bilden
dann nicht nur die der rechtsgeschäftlichen subsidiäre Ordnung,
sondern auch die Grundlage und den Ausgangspunkt der Rechts-
geschäfte selbst. Alles Privatrecht steht also mit der rechts-
geschäftlichen Verfügung in begrifflichem Zusammenhang; es
bildet entweder den Ausgangspunkt oder die Ergänzung rechts-
geschäftlicher Regelung.
B. Wenden wir uns nun dem öffentlichen Recht im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes zu, so begegnen wir Zweifeln in entgegen-
gesetzter Rechnung. Es scheint hier durchaus nicht alles zwingend
zu sein, und es scheint auch das Rechtsgeschäft nicht verbannt
zu sein. Man hält in der Tat der zwingenden Natur des öffent-
lichen Rechts entgegen einerseits die verbreitete Erscheinung des
freien Ermessens und anderseits das nicht seltene Vorkommen
publizistischer Rechtsgeschäfte. Sehen wir zu.
Das Ermessen, das das Gesetz den Verwaltungsbehörden, aber
in minderem Maße auch den Gerichten, läßt, bedeutet eine gewisse
Freiheit der Entscheidung, frei nämlich von positiven gesetzlichen
Normen. Die Freiheit kann sich aber auf zweierlei beziehen: auf
die Wahl technischer Mittel und auf die Wahl des dem Einzel-
fall zugrunde zu legenden Rechtssatzes. Wenn zum Beispiel die
Gesundheitsbehörde vom Gesetz angewiesen wird, die zur Ab-
haltung der Pockengefahr geeigneten Maßnahmen zu treffen,
so wird damit gemeint sein, daß sie entscheiden soll, welche tech-
nischen Mittel nach Aussage medizinischer Fachmänner die er-
wünschte Wirkung haben, vielleicht aber auch, daß sie entscheiden
solle, wann es am Platze ist, eines dieser Mittel anzuwenden. Das
erste ist eine technische Aufgabe, das zweite eine Frage ver-
nünftiger Abwägung der Interessen, also eine rechtliche, oder
genauer: rechtspolitische Aufgabe. Es gibt also ein technisches 2
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bezogen haben werden, wenn sie nichts gesagt haben; nicht das später
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. [43]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/58>, abgerufen am 24.11.2024.
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