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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Tapeten der ersten Reihe.
chen Verdeutlichung der gleichen Nachhülfe wie das Relief der Alten:
nämlich der Personification von Flüssen, Bergen, Städten etc. Auch
das allgemeine ideale Costüm war hier, wo kein Detail scharf cha-
rakteristisch vortreten durfte, durchaus nothwendig.

In den Hauptbildern war Rafael frei und konnte seinen tiefsten
Inspirationen nachgehen. Es ist vorauszusetzen, dass er hier selbst
die Momente wählen durfte, wenigstens sind sie alle so genommen,
dass man keine bessern und schöner abwechselnden aus der Apostel-
geschichte wählen könnte. Die Technik der Wirkerei, auf welche er
seine Arbeit zu berechnen hatte, erlaubte ihm beinahe so viel als das
Fresco. Er scheint mit einer ruhigen, gleichmässigen Wonne gear-
beitet zu haben. Das reinste Liniengefühl verbindet sich mit der tief-
sten geistigen Fassung des Momentes. Wie sanft und eindringlich ist
in dem Bilde "Weide meine Schafe!" die Macht des verklärten Christus
ohne alle Glorien ausgedrückt, indem die Gruppe der Apostel je näher
bei ihm, desto mehr zu ihm hingezogen wird; die hintersten stehen
noch ruhig, während Petrus schon kniet. Die Heilung des Lahmen
im Tempel -- einer jener Gegenstände, welche in spätern Bildern
durch Überladung mit gedrängten Köpfen pflegen erdrückt zu wer-
den -- ist hier durch die architektonische Scheidung und durch erha-
benen Styl in die schönste Ruhe gebracht. Pauli Bekehrung ist (hier
ohne Lichteffect) auf die einzig würdige Weise geschildert, während
die meisten andern Darsteller ihre Virtuosität in einem rechten Ge-
tümmel zu zeigen suchen. Das Gegenstück bildet die Steinigung des
Stephanus. Die Blendung des Zauberers Elymas (leider zur Hälfte
verloren) und die Strafe des Ananias sind die höchsten Vorbilder für
die Darstellung feierlich-schrecklicher Wunder; das Dämonische hat
ruhige Gruppen zum Hintergrunde. Wiederum gehören zusammen:
Pauli Predigt in Athen, und die Scene in Lystra, beide von uner-
messlichem Einfluss auf die spätere Kunst, sodass z. B. der ganze
Styl Poussins ohne sie nicht vorhanden wäre. Das eine ein Bild des
reichsten Seelenausdruckes, der sich der mächtigen Profilgestalt des
Apostels doch vollkommen unterordnet; das andere eine der schönsten
bewegten Volksgruppen, so um den Opferstier geordnet, dass dieser
mit seiner Wendung sie unterbricht und doch nichts verdeckt; man
empfindet, dass der Apostel ob diesem Auftreten der Masse vor Leid

B. Cicerone. 59

Tapeten der ersten Reihe.
chen Verdeutlichung der gleichen Nachhülfe wie das Relief der Alten:
nämlich der Personification von Flüssen, Bergen, Städten etc. Auch
das allgemeine ideale Costüm war hier, wo kein Detail scharf cha-
rakteristisch vortreten durfte, durchaus nothwendig.

In den Hauptbildern war Rafael frei und konnte seinen tiefsten
Inspirationen nachgehen. Es ist vorauszusetzen, dass er hier selbst
die Momente wählen durfte, wenigstens sind sie alle so genommen,
dass man keine bessern und schöner abwechselnden aus der Apostel-
geschichte wählen könnte. Die Technik der Wirkerei, auf welche er
seine Arbeit zu berechnen hatte, erlaubte ihm beinahe so viel als das
Fresco. Er scheint mit einer ruhigen, gleichmässigen Wonne gear-
beitet zu haben. Das reinste Liniengefühl verbindet sich mit der tief-
sten geistigen Fassung des Momentes. Wie sanft und eindringlich ist
in dem Bilde „Weide meine Schafe!“ die Macht des verklärten Christus
ohne alle Glorien ausgedrückt, indem die Gruppe der Apostel je näher
bei ihm, desto mehr zu ihm hingezogen wird; die hintersten stehen
noch ruhig, während Petrus schon kniet. Die Heilung des Lahmen
im Tempel — einer jener Gegenstände, welche in spätern Bildern
durch Überladung mit gedrängten Köpfen pflegen erdrückt zu wer-
den — ist hier durch die architektonische Scheidung und durch erha-
benen Styl in die schönste Ruhe gebracht. Pauli Bekehrung ist (hier
ohne Lichteffect) auf die einzig würdige Weise geschildert, während
die meisten andern Darsteller ihre Virtuosität in einem rechten Ge-
tümmel zu zeigen suchen. Das Gegenstück bildet die Steinigung des
Stephanus. Die Blendung des Zauberers Elymas (leider zur Hälfte
verloren) und die Strafe des Ananias sind die höchsten Vorbilder für
die Darstellung feierlich-schrecklicher Wunder; das Dämonische hat
ruhige Gruppen zum Hintergrunde. Wiederum gehören zusammen:
Pauli Predigt in Athen, und die Scene in Lystra, beide von uner-
messlichem Einfluss auf die spätere Kunst, sodass z. B. der ganze
Styl Poussins ohne sie nicht vorhanden wäre. Das eine ein Bild des
reichsten Seelenausdruckes, der sich der mächtigen Profilgestalt des
Apostels doch vollkommen unterordnet; das andere eine der schönsten
bewegten Volksgruppen, so um den Opferstier geordnet, dass dieser
mit seiner Wendung sie unterbricht und doch nichts verdeckt; man
empfindet, dass der Apostel ob diesem Auftreten der Masse vor Leid

B. Cicerone. 59
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[929/0951] Tapeten der ersten Reihe. chen Verdeutlichung der gleichen Nachhülfe wie das Relief der Alten: nämlich der Personification von Flüssen, Bergen, Städten etc. Auch das allgemeine ideale Costüm war hier, wo kein Detail scharf cha- rakteristisch vortreten durfte, durchaus nothwendig. In den Hauptbildern war Rafael frei und konnte seinen tiefsten Inspirationen nachgehen. Es ist vorauszusetzen, dass er hier selbst die Momente wählen durfte, wenigstens sind sie alle so genommen, dass man keine bessern und schöner abwechselnden aus der Apostel- geschichte wählen könnte. Die Technik der Wirkerei, auf welche er seine Arbeit zu berechnen hatte, erlaubte ihm beinahe so viel als das Fresco. Er scheint mit einer ruhigen, gleichmässigen Wonne gear- beitet zu haben. Das reinste Liniengefühl verbindet sich mit der tief- sten geistigen Fassung des Momentes. Wie sanft und eindringlich ist in dem Bilde „Weide meine Schafe!“ die Macht des verklärten Christus ohne alle Glorien ausgedrückt, indem die Gruppe der Apostel je näher bei ihm, desto mehr zu ihm hingezogen wird; die hintersten stehen noch ruhig, während Petrus schon kniet. Die Heilung des Lahmen im Tempel — einer jener Gegenstände, welche in spätern Bildern durch Überladung mit gedrängten Köpfen pflegen erdrückt zu wer- den — ist hier durch die architektonische Scheidung und durch erha- benen Styl in die schönste Ruhe gebracht. Pauli Bekehrung ist (hier ohne Lichteffect) auf die einzig würdige Weise geschildert, während die meisten andern Darsteller ihre Virtuosität in einem rechten Ge- tümmel zu zeigen suchen. Das Gegenstück bildet die Steinigung des Stephanus. Die Blendung des Zauberers Elymas (leider zur Hälfte verloren) und die Strafe des Ananias sind die höchsten Vorbilder für die Darstellung feierlich-schrecklicher Wunder; das Dämonische hat ruhige Gruppen zum Hintergrunde. Wiederum gehören zusammen: Pauli Predigt in Athen, und die Scene in Lystra, beide von uner- messlichem Einfluss auf die spätere Kunst, sodass z. B. der ganze Styl Poussins ohne sie nicht vorhanden wäre. Das eine ein Bild des reichsten Seelenausdruckes, der sich der mächtigen Profilgestalt des Apostels doch vollkommen unterordnet; das andere eine der schönsten bewegten Volksgruppen, so um den Opferstier geordnet, dass dieser mit seiner Wendung sie unterbricht und doch nichts verdeckt; man empfindet, dass der Apostel ob diesem Auftreten der Masse vor Leid B. Cicerone. 59

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 929. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/951>, abgerufen am 17.06.2024.