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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Gewölbe der sixtinischen Capelle.
vom Traum erweckte Jesajas; Jonas mit dem Ausdruck eines wieder-
gewonnenen mächtigen Lebens; die Sibylla delphica, welche schon die
Erfüllung ihrer Weissagung vor sich zu sehen scheint -- von allen
Gestalten des Meisters diejenige, welche Gewaltigkeit und Schönheit
im höchsten Verein offenbart. -- Abgesehen von der innern Bedeu-
tung ist durchgängig genau auf die Gewänder zu achten, welche von
der idealen Aposteltracht durch eine absichtliche (orientalische) Nuance
unterschieden, überaus schön geschwungen und gelegt, und in voll-
kommenstem Einklang mit Stellung und Bewegung sind, sodass jede
Falte ihre (vielleicht hie und da zu bewusst berechnete?) Causalität
hat. -- (Gewisse dumpfe Töne der Carnation waren Michelangelo
eigen und finden sich auch auf seinem einzigen Tafelbilde, wovon
unten, wieder.)

Von den Vorfahren Christi zeigen diejenigen in den Lunetten
die leichteste Meisterschaft in monumentaler Behandlung des ungün-
stigsten Raumes. Geschichtlos, wie die meisten derselben sind, existi-
ren sie bloss in Beziehung auf ihren göttlichen Abkömmling und zeigen
desshalb den Ausdruck des ruhigen, gesammelten Harrens. Schon hier
kommen einige wunderbar schöne, einfache Familienscenen vor. --
In diesem Betracht sind aber einzelne Darstellungen in den dreieckigen
Gewölbekappen vielleicht noch ausserordentlicher; ja es findet sich
unter diesen auf der Erde sitzenden Eltern mit Kindern mehr als Ein
Motiv des höchsten Ranges, obwohl der Ausdruck nirgends die In-
nigkeit oder sonst irgend einen activen Affect erreicht.

Dieses ist die Stiftung Papst Julius II. Mit Anspornen und Nach-
geben, mit Streit und mit Güte erhielt er was vielleicht kein Anderer
von Michelangelo erhalten hätte. Sein Andenken ist in der Kunst ein
hochgesegnetes.

Viele Jahre später (1534--1541) unter Papst Paul III malte
Michelangelo an der Hinterwand der Capelle das jüngste Gericht.a

Man muss zuerst darüber im Klaren sein, ob man überhaupt die
Darstellung dieses Momentes für möglich und wünschbar hält. So-
dann, ob man irgend eine Darstellung würdigen kann, welche nicht
durch einen sofortigen Hauptschlag, z. B. einen raffinirten Lichteffect
(in Martin's Manier) die Phantasie gefangen nimmt; schon die Aus-
führung in Fresco verbot diess hier. Endlich, ob man die physischen

Gewölbe der sixtinischen Capelle.
vom Traum erweckte Jesajas; Jonas mit dem Ausdruck eines wieder-
gewonnenen mächtigen Lebens; die Sibylla delphica, welche schon die
Erfüllung ihrer Weissagung vor sich zu sehen scheint — von allen
Gestalten des Meisters diejenige, welche Gewaltigkeit und Schönheit
im höchsten Verein offenbart. — Abgesehen von der innern Bedeu-
tung ist durchgängig genau auf die Gewänder zu achten, welche von
der idealen Aposteltracht durch eine absichtliche (orientalische) Nuance
unterschieden, überaus schön geschwungen und gelegt, und in voll-
kommenstem Einklang mit Stellung und Bewegung sind, sodass jede
Falte ihre (vielleicht hie und da zu bewusst berechnete?) Causalität
hat. — (Gewisse dumpfe Töne der Carnation waren Michelangelo
eigen und finden sich auch auf seinem einzigen Tafelbilde, wovon
unten, wieder.)

Von den Vorfahren Christi zeigen diejenigen in den Lunetten
die leichteste Meisterschaft in monumentaler Behandlung des ungün-
stigsten Raumes. Geschichtlos, wie die meisten derselben sind, existi-
ren sie bloss in Beziehung auf ihren göttlichen Abkömmling und zeigen
desshalb den Ausdruck des ruhigen, gesammelten Harrens. Schon hier
kommen einige wunderbar schöne, einfache Familienscenen vor. —
In diesem Betracht sind aber einzelne Darstellungen in den dreieckigen
Gewölbekappen vielleicht noch ausserordentlicher; ja es findet sich
unter diesen auf der Erde sitzenden Eltern mit Kindern mehr als Ein
Motiv des höchsten Ranges, obwohl der Ausdruck nirgends die In-
nigkeit oder sonst irgend einen activen Affect erreicht.

Dieses ist die Stiftung Papst Julius II. Mit Anspornen und Nach-
geben, mit Streit und mit Güte erhielt er was vielleicht kein Anderer
von Michelangelo erhalten hätte. Sein Andenken ist in der Kunst ein
hochgesegnetes.

Viele Jahre später (1534—1541) unter Papst Paul III malte
Michelangelo an der Hinterwand der Capelle das jüngste Gericht.a

Man muss zuerst darüber im Klaren sein, ob man überhaupt die
Darstellung dieses Momentes für möglich und wünschbar hält. So-
dann, ob man irgend eine Darstellung würdigen kann, welche nicht
durch einen sofortigen Hauptschlag, z. B. einen raffinirten Lichteffect
(in Martin’s Manier) die Phantasie gefangen nimmt; schon die Aus-
führung in Fresco verbot diess hier. Endlich, ob man die physischen

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[875/0897] Gewölbe der sixtinischen Capelle. vom Traum erweckte Jesajas; Jonas mit dem Ausdruck eines wieder- gewonnenen mächtigen Lebens; die Sibylla delphica, welche schon die Erfüllung ihrer Weissagung vor sich zu sehen scheint — von allen Gestalten des Meisters diejenige, welche Gewaltigkeit und Schönheit im höchsten Verein offenbart. — Abgesehen von der innern Bedeu- tung ist durchgängig genau auf die Gewänder zu achten, welche von der idealen Aposteltracht durch eine absichtliche (orientalische) Nuance unterschieden, überaus schön geschwungen und gelegt, und in voll- kommenstem Einklang mit Stellung und Bewegung sind, sodass jede Falte ihre (vielleicht hie und da zu bewusst berechnete?) Causalität hat. — (Gewisse dumpfe Töne der Carnation waren Michelangelo eigen und finden sich auch auf seinem einzigen Tafelbilde, wovon unten, wieder.) Von den Vorfahren Christi zeigen diejenigen in den Lunetten die leichteste Meisterschaft in monumentaler Behandlung des ungün- stigsten Raumes. Geschichtlos, wie die meisten derselben sind, existi- ren sie bloss in Beziehung auf ihren göttlichen Abkömmling und zeigen desshalb den Ausdruck des ruhigen, gesammelten Harrens. Schon hier kommen einige wunderbar schöne, einfache Familienscenen vor. — In diesem Betracht sind aber einzelne Darstellungen in den dreieckigen Gewölbekappen vielleicht noch ausserordentlicher; ja es findet sich unter diesen auf der Erde sitzenden Eltern mit Kindern mehr als Ein Motiv des höchsten Ranges, obwohl der Ausdruck nirgends die In- nigkeit oder sonst irgend einen activen Affect erreicht. Dieses ist die Stiftung Papst Julius II. Mit Anspornen und Nach- geben, mit Streit und mit Güte erhielt er was vielleicht kein Anderer von Michelangelo erhalten hätte. Sein Andenken ist in der Kunst ein hochgesegnetes. Viele Jahre später (1534—1541) unter Papst Paul III malte Michelangelo an der Hinterwand der Capelle das jüngste Gericht. a Man muss zuerst darüber im Klaren sein, ob man überhaupt die Darstellung dieses Momentes für möglich und wünschbar hält. So- dann, ob man irgend eine Darstellung würdigen kann, welche nicht durch einen sofortigen Hauptschlag, z. B. einen raffinirten Lichteffect (in Martin’s Manier) die Phantasie gefangen nimmt; schon die Aus- führung in Fresco verbot diess hier. Endlich, ob man die physischen

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 875. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/897>, abgerufen am 17.06.2024.