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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
Kräfte besitzt, dieses ganze ungeheure (stellenweise sehr verdorbene)
Bild nach Gruppirung und Einzelmotiven gewissenhaft durchzugehen.
Dasselbe will nicht nach dem ersten Eindruck, sondern nach dem
letzten beurtheilt sein.

Der grosse Hauptfehler kam tief aus Michelangelo's Wesen her-
vor. Da er längst gebrochen hatte mit Allem was kirchlicher Typus,
was religiöser Gemüthsanklang heisst, da er den Menschen -- gleich-
viel welchen -- immer und durchgängig mit erhöhter physischer Macht
bildet, zu deren Äusserung die Nacktheit wesentlich gehört, so existirt
gar kein kenntlicher Unterschied zwischen Heiligen, Seligen und Ver-
dammten. Die Bildungen der obern Gruppen sind nicht idealer, ihre
Bewegungen nicht edler als die der untern. Umsonst sucht man nach
jener ruhigen Glorie von Engeln, Aposteln und Heiligen, welche in
andern Bildern dieses Inhaltes schon durch ihr blosses symmetrisches
Dasein die Hauptgestalt, den Richter, so sehr heben, vollends aber bei
Orcagna und Fiesole mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen
geistigen Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michel-
angelo sie wollte, können einer solchen Stimmung gar nicht als Träger
dienen; sie verlangen Gestus, Bewegung und eine ganz andere Ab-
stufung von Motiven. Auf die letztern hatte es der Meister eigentlich
abgesehen. Es sind zwar in dem Werke viele und sehr grosse poe-
tische
Gedanken; von den beiden obern Engelgruppen mit den Mar-
terwerkzeugen ist diejenige links herrlich in ihrem Heranstürmen; in
den emporschwebenden Geretteten ringt sich das Leben wunderbar
vom Tode los; die schwebenden Verdammten sind in zwei Gruppen
dargestellt, wovon die eine durch kämpfende Engel mit Gewalt zu-
rückgedrängt, durch Teufel abwärts gerissen, eine ganz grossartig dä-
monische Scene bildet, die andere aber jene Gestalt des tiefsten Jam-
mers darstellt, die von zwei sich anklammernden bösen Geistern wie
von einem Schwergewicht hinunter gezogen wird. Die untere Scene
rechts, wo ein Dämon mit erhobenem Ruder die armen Seelen aus
der Barke jagt, und wie sie von den Dienern der Hölle in Empfang
genommen werden, ist mit grandioser Kühnheit aus dem Unbestimm-
ten in einen bestimmten sinnlichen Vorgang übertragen u. s. w. --
Allein so bedeutend dieser poetische Gehalt sich bei näherer Betrach-
tung herausstellt, so sind doch wohl die malerischen Gedanken im

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
Kräfte besitzt, dieses ganze ungeheure (stellenweise sehr verdorbene)
Bild nach Gruppirung und Einzelmotiven gewissenhaft durchzugehen.
Dasselbe will nicht nach dem ersten Eindruck, sondern nach dem
letzten beurtheilt sein.

Der grosse Hauptfehler kam tief aus Michelangelo’s Wesen her-
vor. Da er längst gebrochen hatte mit Allem was kirchlicher Typus,
was religiöser Gemüthsanklang heisst, da er den Menschen — gleich-
viel welchen — immer und durchgängig mit erhöhter physischer Macht
bildet, zu deren Äusserung die Nacktheit wesentlich gehört, so existirt
gar kein kenntlicher Unterschied zwischen Heiligen, Seligen und Ver-
dammten. Die Bildungen der obern Gruppen sind nicht idealer, ihre
Bewegungen nicht edler als die der untern. Umsonst sucht man nach
jener ruhigen Glorie von Engeln, Aposteln und Heiligen, welche in
andern Bildern dieses Inhaltes schon durch ihr blosses symmetrisches
Dasein die Hauptgestalt, den Richter, so sehr heben, vollends aber bei
Orcagna und Fiesole mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen
geistigen Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michel-
angelo sie wollte, können einer solchen Stimmung gar nicht als Träger
dienen; sie verlangen Gestus, Bewegung und eine ganz andere Ab-
stufung von Motiven. Auf die letztern hatte es der Meister eigentlich
abgesehen. Es sind zwar in dem Werke viele und sehr grosse poe-
tische
Gedanken; von den beiden obern Engelgruppen mit den Mar-
terwerkzeugen ist diejenige links herrlich in ihrem Heranstürmen; in
den emporschwebenden Geretteten ringt sich das Leben wunderbar
vom Tode los; die schwebenden Verdammten sind in zwei Gruppen
dargestellt, wovon die eine durch kämpfende Engel mit Gewalt zu-
rückgedrängt, durch Teufel abwärts gerissen, eine ganz grossartig dä-
monische Scene bildet, die andere aber jene Gestalt des tiefsten Jam-
mers darstellt, die von zwei sich anklammernden bösen Geistern wie
von einem Schwergewicht hinunter gezogen wird. Die untere Scene
rechts, wo ein Dämon mit erhobenem Ruder die armen Seelen aus
der Barke jagt, und wie sie von den Dienern der Hölle in Empfang
genommen werden, ist mit grandioser Kühnheit aus dem Unbestimm-
ten in einen bestimmten sinnlichen Vorgang übertragen u. s. w. —
Allein so bedeutend dieser poetische Gehalt sich bei näherer Betrach-
tung herausstellt, so sind doch wohl die malerischen Gedanken im

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[876/0898] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo. Kräfte besitzt, dieses ganze ungeheure (stellenweise sehr verdorbene) Bild nach Gruppirung und Einzelmotiven gewissenhaft durchzugehen. Dasselbe will nicht nach dem ersten Eindruck, sondern nach dem letzten beurtheilt sein. Der grosse Hauptfehler kam tief aus Michelangelo’s Wesen her- vor. Da er längst gebrochen hatte mit Allem was kirchlicher Typus, was religiöser Gemüthsanklang heisst, da er den Menschen — gleich- viel welchen — immer und durchgängig mit erhöhter physischer Macht bildet, zu deren Äusserung die Nacktheit wesentlich gehört, so existirt gar kein kenntlicher Unterschied zwischen Heiligen, Seligen und Ver- dammten. Die Bildungen der obern Gruppen sind nicht idealer, ihre Bewegungen nicht edler als die der untern. Umsonst sucht man nach jener ruhigen Glorie von Engeln, Aposteln und Heiligen, welche in andern Bildern dieses Inhaltes schon durch ihr blosses symmetrisches Dasein die Hauptgestalt, den Richter, so sehr heben, vollends aber bei Orcagna und Fiesole mit ihrem wunderbaren Seelenausdruck einen geistigen Nimbus um ihn ausmachen. Nackte Gestalten, wie Michel- angelo sie wollte, können einer solchen Stimmung gar nicht als Träger dienen; sie verlangen Gestus, Bewegung und eine ganz andere Ab- stufung von Motiven. Auf die letztern hatte es der Meister eigentlich abgesehen. Es sind zwar in dem Werke viele und sehr grosse poe- tische Gedanken; von den beiden obern Engelgruppen mit den Mar- terwerkzeugen ist diejenige links herrlich in ihrem Heranstürmen; in den emporschwebenden Geretteten ringt sich das Leben wunderbar vom Tode los; die schwebenden Verdammten sind in zwei Gruppen dargestellt, wovon die eine durch kämpfende Engel mit Gewalt zu- rückgedrängt, durch Teufel abwärts gerissen, eine ganz grossartig dä- monische Scene bildet, die andere aber jene Gestalt des tiefsten Jam- mers darstellt, die von zwei sich anklammernden bösen Geistern wie von einem Schwergewicht hinunter gezogen wird. Die untere Scene rechts, wo ein Dämon mit erhobenem Ruder die armen Seelen aus der Barke jagt, und wie sie von den Dienern der Hölle in Empfang genommen werden, ist mit grandioser Kühnheit aus dem Unbestimm- ten in einen bestimmten sinnlichen Vorgang übertragen u. s. w. — Allein so bedeutend dieser poetische Gehalt sich bei näherer Betrach- tung herausstellt, so sind doch wohl die malerischen Gedanken im

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 876. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/898>, abgerufen am 17.06.2024.