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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
angelo's) ist die Belebung Adams. Von einer Heerschaar jener gött-
lichen Einzelkräfte, tragenden und getragenen, umschwebt, nähert sich
der Allmächtige der Erde und lässt aus seinem Zeigefinger den Fun-
ken seines Lebens in den Zeigefinger des schon halb belebten ersten
Menschen hinüberströmen. Es giebt im ganzen Bereiche der Kunst
kein Beispiel mehr von so genialer Übertragung des Übersinnlichen
in einen völlig klaren und sprechenden sinnlichen Moment. Auch die
Gestalt des Adam ist das würdigste Urbild der Menschheit.

Die ganze spätere Kunst hat sich von dieser Auffassung Gottes
des Vaters beherrscht gefühlt, ohne sie doch erreichen zu können.
Am tiefsten ist Rafael (in den ersten Bildern der Loggien) darauf
eingegangen.

Die nun folgenden Scenen aus dem Leben der ersten Menschen
erscheinen um so gewaltiger, je einfacher sie die uranfängliche Exi-
stenz darstellen. "Sündenfall und Strafe" sind mit ergreifender Gleich-
zeitigkeit auf Einem Bilde vereinigt; die Eva im Sündenfall zeigt,
welche unendliche Schönheit dem Meister zu Gebote stand. Als Com-
position von wenigen Figuren steht "Noahs Trunkenheit" auf der
Höhe alles Erreichbaren. Die "Sündfluth" contrastirt zwar nicht glück-
lich mit dem Massstab der übrigen Bilder, ist aber reich an den wun-
derwürdigsten Einzelmotiven.

Die Propheten und Sibyllen, die grössten Gestalten dieses
Raumes, erfordern ein längeres Studium. Sie sind keinesweges alle
mit derjenigen hohen Unbefangenheit gedacht, welche aus einigen der-
selben so überwältigend spricht. Die Aufgabe war: zwölf Wesen
durch den Ausdruck höherer Inspiration über Zeit und Welt in das
Übermenschliche emporzuheben. Die Gewaltigkeit ihrer Bildung allein
genügte nicht; es bedurfte abwechselnder Momente der höchsten gei-
stigen und zugleich äusserlich sichtbaren Art. Vielleicht überstieg
dieses die Kräfte der Kunst. -- Die je zwei Genien, welche jeder Ge-
stalt beigegeben sind, stellen nicht etwa die Quelle und Anregung der
Inspiration vor, sondern Diener und Begleiter; sie sollen durch ihre
Gegenwart die Gestalt heben, als eine überirdische bezeichnen; durch-
gehends sind sie in Abhängigkeit von derselben geschildert. -- Von
unvergleichlicher Herrlichkeit ist der gramverzehrte Jeremias; oder
Joel, den beim Lesen die stärkste innere Erregung ergreift; der wie

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
angelo’s) ist die Belebung Adams. Von einer Heerschaar jener gött-
lichen Einzelkräfte, tragenden und getragenen, umschwebt, nähert sich
der Allmächtige der Erde und lässt aus seinem Zeigefinger den Fun-
ken seines Lebens in den Zeigefinger des schon halb belebten ersten
Menschen hinüberströmen. Es giebt im ganzen Bereiche der Kunst
kein Beispiel mehr von so genialer Übertragung des Übersinnlichen
in einen völlig klaren und sprechenden sinnlichen Moment. Auch die
Gestalt des Adam ist das würdigste Urbild der Menschheit.

Die ganze spätere Kunst hat sich von dieser Auffassung Gottes
des Vaters beherrscht gefühlt, ohne sie doch erreichen zu können.
Am tiefsten ist Rafael (in den ersten Bildern der Loggien) darauf
eingegangen.

Die nun folgenden Scenen aus dem Leben der ersten Menschen
erscheinen um so gewaltiger, je einfacher sie die uranfängliche Exi-
stenz darstellen. „Sündenfall und Strafe“ sind mit ergreifender Gleich-
zeitigkeit auf Einem Bilde vereinigt; die Eva im Sündenfall zeigt,
welche unendliche Schönheit dem Meister zu Gebote stand. Als Com-
position von wenigen Figuren steht „Noahs Trunkenheit“ auf der
Höhe alles Erreichbaren. Die „Sündfluth“ contrastirt zwar nicht glück-
lich mit dem Massstab der übrigen Bilder, ist aber reich an den wun-
derwürdigsten Einzelmotiven.

Die Propheten und Sibyllen, die grössten Gestalten dieses
Raumes, erfordern ein längeres Studium. Sie sind keinesweges alle
mit derjenigen hohen Unbefangenheit gedacht, welche aus einigen der-
selben so überwältigend spricht. Die Aufgabe war: zwölf Wesen
durch den Ausdruck höherer Inspiration über Zeit und Welt in das
Übermenschliche emporzuheben. Die Gewaltigkeit ihrer Bildung allein
genügte nicht; es bedurfte abwechselnder Momente der höchsten gei-
stigen und zugleich äusserlich sichtbaren Art. Vielleicht überstieg
dieses die Kräfte der Kunst. — Die je zwei Genien, welche jeder Ge-
stalt beigegeben sind, stellen nicht etwa die Quelle und Anregung der
Inspiration vor, sondern Diener und Begleiter; sie sollen durch ihre
Gegenwart die Gestalt heben, als eine überirdische bezeichnen; durch-
gehends sind sie in Abhängigkeit von derselben geschildert. — Von
unvergleichlicher Herrlichkeit ist der gramverzehrte Jeremias; oder
Joel, den beim Lesen die stärkste innere Erregung ergreift; der wie

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[874/0896] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo. angelo’s) ist die Belebung Adams. Von einer Heerschaar jener gött- lichen Einzelkräfte, tragenden und getragenen, umschwebt, nähert sich der Allmächtige der Erde und lässt aus seinem Zeigefinger den Fun- ken seines Lebens in den Zeigefinger des schon halb belebten ersten Menschen hinüberströmen. Es giebt im ganzen Bereiche der Kunst kein Beispiel mehr von so genialer Übertragung des Übersinnlichen in einen völlig klaren und sprechenden sinnlichen Moment. Auch die Gestalt des Adam ist das würdigste Urbild der Menschheit. Die ganze spätere Kunst hat sich von dieser Auffassung Gottes des Vaters beherrscht gefühlt, ohne sie doch erreichen zu können. Am tiefsten ist Rafael (in den ersten Bildern der Loggien) darauf eingegangen. Die nun folgenden Scenen aus dem Leben der ersten Menschen erscheinen um so gewaltiger, je einfacher sie die uranfängliche Exi- stenz darstellen. „Sündenfall und Strafe“ sind mit ergreifender Gleich- zeitigkeit auf Einem Bilde vereinigt; die Eva im Sündenfall zeigt, welche unendliche Schönheit dem Meister zu Gebote stand. Als Com- position von wenigen Figuren steht „Noahs Trunkenheit“ auf der Höhe alles Erreichbaren. Die „Sündfluth“ contrastirt zwar nicht glück- lich mit dem Massstab der übrigen Bilder, ist aber reich an den wun- derwürdigsten Einzelmotiven. Die Propheten und Sibyllen, die grössten Gestalten dieses Raumes, erfordern ein längeres Studium. Sie sind keinesweges alle mit derjenigen hohen Unbefangenheit gedacht, welche aus einigen der- selben so überwältigend spricht. Die Aufgabe war: zwölf Wesen durch den Ausdruck höherer Inspiration über Zeit und Welt in das Übermenschliche emporzuheben. Die Gewaltigkeit ihrer Bildung allein genügte nicht; es bedurfte abwechselnder Momente der höchsten gei- stigen und zugleich äusserlich sichtbaren Art. Vielleicht überstieg dieses die Kräfte der Kunst. — Die je zwei Genien, welche jeder Ge- stalt beigegeben sind, stellen nicht etwa die Quelle und Anregung der Inspiration vor, sondern Diener und Begleiter; sie sollen durch ihre Gegenwart die Gestalt heben, als eine überirdische bezeichnen; durch- gehends sind sie in Abhängigkeit von derselben geschildert. — Von unvergleichlicher Herrlichkeit ist der gramverzehrte Jeremias; oder Joel, den beim Lesen die stärkste innere Erregung ergreift; der wie

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 874. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/896>, abgerufen am 18.12.2024.