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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Gewölbe der sixtinischen Capelle.
belebten, persönlich gewordenen Kräfte der Architektur" genannt wor-
den sind, liess er durch den ganzen Organismus hin immer so und
immer da auftreten, wie und wo sie nöthig waren. Unter den Pro-
pheten und Sibyllen sind es derbe Kindergestalten in Naturfarbe,
welche die Inschrifttafeln hoch in den Händen tragen oder sie mit
dem Haupte stützen. An beiden Seitenpfosten der Throne der Pro-
pheten und Sibyllen sieht man je zwei nackte Kinder, Knabe und
Mädchen, in Steinfarbe welche die Sculptur nachahmt. Über den
Gewölbekappen oberhalb der Fenster nehmen liegende und lehnende
athletische Figuren in Bronzefarbe die Bogenfüllung ein. Letztere sind
je zu zweien fast symmetrisch angeordnet, überhaupt am strengsten
architektonisch gedacht. Zuletzt, wo von beiden Seiten die colossalen
Gesimse sich nähern und Raum lassen für die Reihe der Mittelbilder,
sitzen auf Postamenten nackte männliche Figuren in natürlicher Farbe,
je zweie halten die Bänder, an welchen der zwischen ihnen befind-
liche Medaillon von Erzfarbe mit Reliefs befestigt ist; einige tragen
auch reiche Laub- und Fruchtgewinde. Ihre Stellungen sind die frei-
sten und leichtesten; sie tragen nichts, weil es dort nach der idealen
Rechnung nichts mehr zu tragen giebt, weil überhaupt die architekto-
nischen Kräfte nicht schlechtweg versinnlicht, sondern poetisch sym-
bolisirt werden sollten. (Karyatiden oder Atlanten, Kopf gegen Kopf
gestemmt, wären z. B. eine Versinnlichung gewesen.) Diese sitzenden
Gestalten, isolirt betrachtet, sind von einer solchen Herrlichkeit, dass
man sie für die Lieblingsarbeit des Meisters in diesem Raum zu halten
versucht ist. Aber ein Blick auf das Übrige zeigt, dass sie doch nur
zum Gerüste gehören.

In vier grössern und fünf kleinern viereckigen Feldern, der Mitte
des Gewölbes entlang, sind die Geschichten der Genesis dar-
gestellt. Zuerst unter allen Künstlern fasste Michelangelo die Schöpfung
nicht als ein blosses Wort mit der Geberde des Segens, sondern als
Bewegung. So allein ergaben sich für die einzelnen Schöpfungs-
akte lauter neue Motive. In erhabenem Fluge schwebt die gewaltige
Gestalt dahin, begleitet von Genien, welche derselbe Mantel mit um-
wallt; -- so rasch, dass ein und dasselbe Bild zwei Schöpfungsakte
(für Sonne und Mond und für die Pflanzen) vereinigen darf. Aber
der höchste Augenblick der Schöpfung (und der höchste Michel-

Gewölbe der sixtinischen Capelle.
belebten, persönlich gewordenen Kräfte der Architektur“ genannt wor-
den sind, liess er durch den ganzen Organismus hin immer so und
immer da auftreten, wie und wo sie nöthig waren. Unter den Pro-
pheten und Sibyllen sind es derbe Kindergestalten in Naturfarbe,
welche die Inschrifttafeln hoch in den Händen tragen oder sie mit
dem Haupte stützen. An beiden Seitenpfosten der Throne der Pro-
pheten und Sibyllen sieht man je zwei nackte Kinder, Knabe und
Mädchen, in Steinfarbe welche die Sculptur nachahmt. Über den
Gewölbekappen oberhalb der Fenster nehmen liegende und lehnende
athletische Figuren in Bronzefarbe die Bogenfüllung ein. Letztere sind
je zu zweien fast symmetrisch angeordnet, überhaupt am strengsten
architektonisch gedacht. Zuletzt, wo von beiden Seiten die colossalen
Gesimse sich nähern und Raum lassen für die Reihe der Mittelbilder,
sitzen auf Postamenten nackte männliche Figuren in natürlicher Farbe,
je zweie halten die Bänder, an welchen der zwischen ihnen befind-
liche Medaillon von Erzfarbe mit Reliefs befestigt ist; einige tragen
auch reiche Laub- und Fruchtgewinde. Ihre Stellungen sind die frei-
sten und leichtesten; sie tragen nichts, weil es dort nach der idealen
Rechnung nichts mehr zu tragen giebt, weil überhaupt die architekto-
nischen Kräfte nicht schlechtweg versinnlicht, sondern poetisch sym-
bolisirt werden sollten. (Karyatiden oder Atlanten, Kopf gegen Kopf
gestemmt, wären z. B. eine Versinnlichung gewesen.) Diese sitzenden
Gestalten, isolirt betrachtet, sind von einer solchen Herrlichkeit, dass
man sie für die Lieblingsarbeit des Meisters in diesem Raum zu halten
versucht ist. Aber ein Blick auf das Übrige zeigt, dass sie doch nur
zum Gerüste gehören.

In vier grössern und fünf kleinern viereckigen Feldern, der Mitte
des Gewölbes entlang, sind die Geschichten der Genesis dar-
gestellt. Zuerst unter allen Künstlern fasste Michelangelo die Schöpfung
nicht als ein blosses Wort mit der Geberde des Segens, sondern als
Bewegung. So allein ergaben sich für die einzelnen Schöpfungs-
akte lauter neue Motive. In erhabenem Fluge schwebt die gewaltige
Gestalt dahin, begleitet von Genien, welche derselbe Mantel mit um-
wallt; — so rasch, dass ein und dasselbe Bild zwei Schöpfungsakte
(für Sonne und Mond und für die Pflanzen) vereinigen darf. Aber
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[873/0895] Gewölbe der sixtinischen Capelle. belebten, persönlich gewordenen Kräfte der Architektur“ genannt wor- den sind, liess er durch den ganzen Organismus hin immer so und immer da auftreten, wie und wo sie nöthig waren. Unter den Pro- pheten und Sibyllen sind es derbe Kindergestalten in Naturfarbe, welche die Inschrifttafeln hoch in den Händen tragen oder sie mit dem Haupte stützen. An beiden Seitenpfosten der Throne der Pro- pheten und Sibyllen sieht man je zwei nackte Kinder, Knabe und Mädchen, in Steinfarbe welche die Sculptur nachahmt. Über den Gewölbekappen oberhalb der Fenster nehmen liegende und lehnende athletische Figuren in Bronzefarbe die Bogenfüllung ein. Letztere sind je zu zweien fast symmetrisch angeordnet, überhaupt am strengsten architektonisch gedacht. Zuletzt, wo von beiden Seiten die colossalen Gesimse sich nähern und Raum lassen für die Reihe der Mittelbilder, sitzen auf Postamenten nackte männliche Figuren in natürlicher Farbe, je zweie halten die Bänder, an welchen der zwischen ihnen befind- liche Medaillon von Erzfarbe mit Reliefs befestigt ist; einige tragen auch reiche Laub- und Fruchtgewinde. Ihre Stellungen sind die frei- sten und leichtesten; sie tragen nichts, weil es dort nach der idealen Rechnung nichts mehr zu tragen giebt, weil überhaupt die architekto- nischen Kräfte nicht schlechtweg versinnlicht, sondern poetisch sym- bolisirt werden sollten. (Karyatiden oder Atlanten, Kopf gegen Kopf gestemmt, wären z. B. eine Versinnlichung gewesen.) Diese sitzenden Gestalten, isolirt betrachtet, sind von einer solchen Herrlichkeit, dass man sie für die Lieblingsarbeit des Meisters in diesem Raum zu halten versucht ist. Aber ein Blick auf das Übrige zeigt, dass sie doch nur zum Gerüste gehören. In vier grössern und fünf kleinern viereckigen Feldern, der Mitte des Gewölbes entlang, sind die Geschichten der Genesis dar- gestellt. Zuerst unter allen Künstlern fasste Michelangelo die Schöpfung nicht als ein blosses Wort mit der Geberde des Segens, sondern als Bewegung. So allein ergaben sich für die einzelnen Schöpfungs- akte lauter neue Motive. In erhabenem Fluge schwebt die gewaltige Gestalt dahin, begleitet von Genien, welche derselbe Mantel mit um- wallt; — so rasch, dass ein und dasselbe Bild zwei Schöpfungsakte (für Sonne und Mond und für die Pflanzen) vereinigen darf. Aber der höchste Augenblick der Schöpfung (und der höchste Michel-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 873. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/895>, abgerufen am 17.06.2024.